1794 — Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten tritt in Kraft

Das All­ge­meine Lan­drecht für die Preußis­chen Staat­en (ALR) war die Kod­i­fika­tion des Zivil­rechts, die von 1794 bis 1900 in den älteren Prov­inzen des Kön­i­gre­ichs Preußen galt. „All­ge­mein“ war nach dama­ligem Ver­ständ­nis die Beze­ich­nung eines die Rechts­ge­bi­ete abschließend regel­nden Geset­zes, mit den „preußis­chen Staat­en“ sind die jew­eili­gen Prov­inzen (mit ihren Prov­inzial­stän­den, Staat­en) gemeint. Der Begriff „Lan­drecht“ wurde gegenüber dem in der dama­li­gen Fach­sprache dur­chaus bekan­nten und einge­führten Begriff „Geset­zbuch“ gewählt, um reak­tionäre Befürch­tun­gen des Adels vor ein­er Zivil­recht­skod­i­fika­tion zu zer­streuen bzw. zu berück­sichti­gen..

Das vom ALR geregelte Rechts­ge­bi­et geht über das heutige Ver­ständ­nis von Zivilecht hin­aus und regelt etwa auch Fra­gen des Straf‑, Verwaltungs‑, Lehns‑, und Kirchen­rechts, zudem der Staat­sor­gan­i­sa­tion; es zeich­net im Grunde einen fast voll­ständi­gen Staat­sauf­bau auf der Grund­lage des Ver­nun­ftrechts. Teil­weise wird die Ansicht vertreten, das ALR habe für Preußen, das erst ver­hält­nis­mäßig spät, näm­lich 1850, eine geschriebene Ver­fas­sung erhielt, auch die Funk­tion ein­er Ver­fas­sung besessen („Grundge­setz des frid­er­izian­is­chen Staates“). For­mal gehört das ALR wie der franzö­sis­che Code civ­il von 1804 und das öster­re­ichis­che All­ge­meine Bürg­er­liche Geset­zbuch (ABGB) von 1811, die mit Mod­i­fika­tio­nen bis heute in Gel­tung sind, zu den natur­rechtlichen Kod­i­fika­tio­nen. Mit seinen ins­ge­samt 19194 Para­graphen ist es das umfan­gre­ich­ste Geset­zbuch der Neuzeit; inhaltlich fällt es nicht durch Abstrak­tion, son­dern durch eine teil­weise sehr klein­teilige Kasu­is­tik auf.

Das ALR gliedert sich in eine Ein­leitung mit den wichti­gen Abschnit­ten „Von den Geset­zen über­haupt“ und „All­ge­meine Grund­sätze des Rechts“, einen ersten (im eigentlichen Sinne pri­va­trechtlichen) Teil mit 23 Titeln (darunter Per­so­n­en­recht, Wil­lenserk­lärun­gen, Verträge, uner­laubte Hand­lun­gen, Eigen­tum und seine Über­tra­gung) und einen zweit­en Teil mit 20 Titeln (darunter Fam­i­lien­recht, Lehn­srecht, Kirchen­recht, Staat­srecht, Strafrecht).

Die Vorar­beit­en zu ein­er preußis­chen Kod­i­fika­tion began­nen bere­its in der ersten Hälfte des 18. Jahrhun­derts unter König Friedrich Wil­helm I. In der Regierungszeit seines Sohnes, Friedrichs II. („des Großen“), wur­den diese ver­stärkt; 1746 erg­ing eine Kabi­nettsor­dre Friedrichs, ein „deutsches all­ge­meines Lan­drecht, welch­es sich nur auf die Ver­nun­ft und die Lan­desver­fas­sun­gen grün­det“, zu ver­fassen. Daraus ent­stand 1749/51 das Pro­jekt des „Cor­pus Juris Frid­eri­ciani“, das jedoch noch sehr stark dem römis­chen Recht ver­haftet war und über das Entwurf­ssta­di­um nie hin­auskam. 1780, in unmit­tel­bar­er Folge des „Müller-Arnold-Prozess­es“, erg­ing eine erneute Kabi­nettsor­dre, in der Friedrich all­ge­mein eine „Verbesserung des Jus­tiz-Wesens“ ver­langte, daneben aber im beson­deren auch „ein all­ge­meines sub­si­darisches Geset­zbuch“ in deutsch­er Sprache. Die Redak­tion­sar­beit über­nah­men Carl Got­tlieb Suarez und Ernst Fer­di­nand Klein. Zwis­chen 1783 und 1788 erstell­ten sie einen ersten Entwurf, der von 1784 bis 1788 in sechs Bän­den veröf­fentlicht wurde.

Zwar kann von ein­er Beteili­gung der Öffentlichkeit nach heuti­gen Maßstäben nicht die Rede sein, doch wurde der Entwurf einem ungewöhn­lich großen Kreis von Per­so­n­en und Behör­den zugänglich gemacht, die Verbesserungsvorschläge unter­bre­it­en kon­nten. 1787 fand ein, dur­chaus zeit­typ­is­ches, Preisauss­chreiben unter den „Gebilde­ten“ zu dem Entwurf des „All­ge­meinen Geset­zbuchs“ statt; das Ver­fahren wurde etwa von Immanuel Kant aus­drück­lich gelobt. Zwis­chen 1789 und 1791 wur­den zahlre­iche Moni­ta eingear­beit­et.

Friedrich der Große selb­st hat­te in seinen let­zten Leben­s­jahren an dem Geset­zbuch nur begren­zt Anteil genom­men. Sich­er hat­te der König ein echt­es Inter­esse an der Kod­i­fika­tion; er miß­traute Anwäl­ten und Richtern, zudem war er von der Notwendigkeit eines Geset­zbuch­es im Sinne der Philoso­phie der Aufk­lärung überzeugt. Bekan­nt ist aber auch, daß Friedrich 1785 einen Entwurf als zu „dicke“ kri­tisiert hat­te. Gle­ich­wohl bedeutete der Tod des Königs 1786 eine Zäsur für das Geset­zge­bungsvorhaben; sein Nach­fol­ger, Friedrich Wil­helm II., nahm stärk­er auf die Inter­essen der Stände Rück­sicht; vor dem Hin­ter­grund der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion kon­nte der neue König von kon­ser­v­a­tiv­en Adeli­gen so weit gebracht wer­den, 1792 das kurz vor der Vol­len­dung ste­hende Geset­zbuch auf unbes­timmte Zeit zu dis­pen­sieren.

Eine uner­wartete Wende brachte die Zweite Pol­nis­che Teilung 1793, bei der Preußen große Teile Polens erhielt, darunter Danzig, Thorn und Süd­preußen, die in den Staat inte­gri­ert wer­den mußten. Hier bot sich die Ein­führung eines Geset­zbuchs an. Nach ein­er kürz­eren Diskus­sion wurde beschlossen, das ALR in der gesamten Monar­chie in Gel­tung zu set­zen. Durch königlich­es Pub­lika­tion­spatent vom 5. Feb­ru­ar 1794 trat das ALR am 1. Juni 1794 in Kraft.

Das ALR sys­tem­a­tisierte das Ende des 18. Jahrhun­derts gel­tende bran­den­bur­gisch-preußis­che Recht; stärk­er als Code civ­il und ABGB fes­tigte es eine ständis­che Ord­nung des Spätab­so­lutismus und hielt an Priv­i­legien fest. Seine Kasu­is­tik hat­te dur­chaus eine Funk­tion, näm­lich den Richtern möglichst jeden Inter­pre­ta­tion­sspiel­raum zu nehmen. Dies entsprach dem Ide­al des aufgek­lärten Abso­lutismus und dem ver­nun­ftrechtlichen Glauben an die Möglichkeit eines abso­lut richti­gen Rechts.

Ins­ge­samt war das Gesetz ein Kom­pro­miß zwis­chen ständis­chen Recht­en und aufgek­lärtem Natur­recht. Immer wieder, erst­mals wohl bei Hein­rich von Tre­itschke, wird die „Janusköp­figkeit“ des Geset­zbuch­es her­vorge­hoben. Neben auch im Zeit­maßstab sehr fortschrit­tlichen Regelun­gen, etwa im Recht der Eheschei­dung und der une­he­lichen Kinder, ein­er pos­i­tiv­en Erwäh­nung „ange­boren­er Rechte“ (Men­schen­rechte) und ein­er rel­a­tiv klaren Abgren­zung der königlichen Befug­nisse (von der allerd­ings die Stände, nicht der Zen­tral­staat prof­i­tierten), standen Rück­sicht­en auf den Adel, eine Per­pe­tu­ierung der Stän­dege­sellschaft und der Priv­i­legien und Atavis­men wie die Gut­sun­tertänigkeit oder die „Ehen zur linken Hand.“

Bere­its nach dem Urteil sein­er Zeitgenossen war das ALR eine ver­spätete Kod­i­fika­tion. Ein Teil sein­er Bes­tim­mungen wurde durch die Stein-Hard­en­bergschen Refor­men über­holt. Mit der Ein­führung der Zivile­he und der Standesämter in Preußen set­zte Bis­mar­ck gegen den Wider­stand des preußis­chen Königs und deutschen Kaisers Wil­helm I. weit­ere Teile des ALR außer Kraft. Mit dem Inkraft­treten des BGB am 1. Jan­u­ar 1900 trat das ALR weit­ge­hend außer Kraft. Der durch die Beschränkung der Polizei auf die Gefahren­ab­wehr mod­erne Polizeibegriff des ALR in § 10 II 17 („Die nöthi­gen Anstal­ten zur Erhal­tung der öffentlichen Ruhe, Sicher­heit, und Ord­nung, und zur Abwen­dung der dem Pub­li­co, oder einzel­nen Mit­gliedern des­sel­ben, bevorste­hen­den Gefahr zu tre­f­fen, ist das Amt der Polizey“) war in Preußen bis zum Inkraft­treten des Preußis­chen Polizeiver­wal­tungs­ge­set­zes 1931 die Def­i­n­i­tion der Polizei. Bis in die bun­des­deutsche Nachkriegszeit besitzen die §§ 74, 75 Ein­leitung ALR eine Bedeu­tung, die u.a. vom Bun­desver­wal­tungs­gericht zur Grund­lage eines rechtsstaatlichen Entschädi­gungsanspruchs gegen staatlich­es Han­deln gemacht wur­den.

Nach 1945 wurde teil­weise ver­sucht, rechtsstaatliche Ele­mente, den ange­blichen Ver­fas­sungscharak­ter und eine par­tielle Lib­er­al­ität des ALR zu beto­nen, es let­zten Endes in die Tra­di­tion­srei­he des Grundge­set­zes zu stellen. Auch ohne diese ahis­torische Wer­tung ist das ALR eine der bedeu­tend­sten geset­zge­berischen Leis­tun­gen des deutschen Abso­lutismus und ein wichtiges Rechts­denkmal der preußis­chen und deutschen Geschichte. „In seine Vorzü­gen und Schwächen ist es ein Doku­ment frid­er­izian­is­ch­er Staats­baukun­st“ (Franz Wieack­er).

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Lit­er­atur:

  • Rein­hard Kosel­leck: Preußen zwis­chen Reform und Rev­o­lu­tion, Stuttgart 1975
  • Andreas Schwen­nicke: Die Entste­hung der Ein­leitung des Preußis­chen All­ge­meinen Lan­drechts von 1794, Frank­furt a.M. 1993
  • Franz Wieack­er: Pri­va­trechts­geschichte der Neuzeit, Göt­tin­gen 1967
  • All­ge­meines Lan­drecht für die preußis­chen Staat­en. Von 1794. Mit ein­er Ein­führung von Hans Hat­ten­hauer und ein­er Bib­li­ogra­phie von Gün­ther Bern­ert, Neuwied 1996