“Die Könige von Preußen sind niemals Könige der Reichen vorzugsweise gewesen; schon Friedrich der Große als Kronprinz sagte: Quand je serai roi, je serai un vrai roi des gueux: ein König der “Geusen” [der Bettler]. Er nahm sich den Schutz der Armut vor. Dieser Grundsatz ist von unseren Königen auch in der Folgezeit betätigt worden. An ihrem Throne hat dasjenige stets Zuflucht und Gehör gefunden, welches entstand in Lagen, wo das geschriebene Gesetz in Widerspruch geriet mit dem natürlichen Menschenrecht. Unsere Könige haben die Emanzipation der Leibeigenen herbeigeführt, sie haben einen blühenden Bauernstand geschaffen; es ist möglich, daß es ihnen auch gelingen werde — das ernst Bestreben dazu ist vorhanden — zur Verbesserung der Lage der Arbeiter etwas beizutragen.” Mit diesen berühmten Worten reagierte Otto von Bismarck im preußischen Abgeordnetenhaus auf Vorwürfe, die vom Abgeordneten Leonor Reichenheim gegen den König erhoben wurden. Bismarck, seit 1862 Ministerpräsident des Königreichs Preußen, umriß damit in wenigen Sätzen die Grundzüge seiner Sozialpolitik, die in den 1880er Jahren in die Einführung der Unfall‑, Renten- und Krankenversicherung münden sollte.
Der konkrete Anlaß für die Rede war eine Auswirkung des Amerikanischen Bürgerkriegs auf die europäische Baumwollindustrie, die nicht mehr genügend Baumwolle aus Amerika erhielt. Die Leidtragenden waren die angestellten Weber, die Kürzungen des ohnehin bescheidenen Lohns nicht hinnehmen konnten und entlassen wurden. Einige von ihnen, aus einer Fabrik in der Nähe des niederschlesischen Waldenburgs, die bis in die 1840er Jahre staatlich betrieben und dann von der Familie Reichenheim übernommen wurde, wandten sich hilfesuchend an den preußischen König. Auf Bismarcks Rat hin empfing der König die Abordnung am 6. Mai 1864, mißbilligte ihre Entlassung und sagte ihnen seine Hilfe zu.
Reichenheim, der für die Fortschrittspartei im preußischen Landtag saß (und erst 1866 zu einem Anhänger Bismarcks und Mitbegründer der Nationalliberalen Partei wurde), beklagte sich in einer Rede über die Tatsache des Empfangs durch den König, vor allem aber darüber, daß der König den Webern aus seinem Privatvermögen ein Darlehen zur Begründung einer Produktionsgenossenschaft gewährt hatte. Weiterhin mutmaßte er, daß die Initiative dazu auf Bismarck zurückging, was Bismarck zu folgender Replik veranlaßte: “Wenn der Herr Abgeordnete darauf aufmerksam macht, daß Seine Majestät in bezug auf die Richtung Seiner Privatwohltätigkeit irgendeinen Ratgeber gehabt haben werde, so brauchte er nicht mit so vielen und über die Linie der Grazie hinausgehenden Gestikulationen auf mich zu zeigen. Der Ratgeber war ich! Und ich glaube, keinen schlechten Rat gegeben zu haben.”
Bismarck zeigte sich an dieser Stelle ganz offen als der Antreiber einer Sozialpolitik, der es gelingen sollte, die „soziale Frage“, die im Zuge der Industrialisierung drückend geworden war, zu entschärfen. Das tat er zum Teil gegen seine eigenen Standesgenossen, vor allem aber gegen die Bestrebungen des Kapitals, dem spätestens seit der gescheiterten Revolution von 1848/49 weitgehend freie Bahn gelassen wurde. In Preußen gab es zwar schon zuvor vereinzelte sozialpolitische Gesetzesinitiativen, z.B. das sogenannte Preußische Regulativ von 1839, das gegen den Widerstand der Industrie die Kinderarbeit einschränkte; aber erst mit Bismarck wurde ernsthaft und über Parteigrenzen hinweg an der Lösung der „sozialen Frage“ gearbeitet.
Hans-Joachim Schoeps hat in dem Zusammenhang auf den wichtigsten Ideengeber Bismarcks, den „konservativen Sozialisten“, Journalisten und Politiker Hermann Wagener, hingewiesen. Dieser war seit 1848 mit Bismarck befreundet und machte ihn auf den Sozialistenführer Ferdinand Lassalle aufmerksam, mit dem sich Bismarck 1863 sogar heimlich traf. Dabei ging es vor allem um zwei Dinge: das gleiche Wahlrecht (das 1866 im Norddeutschen Bund und 1871 im Deutschen Reich, aber nicht in Preußen eingeführt wurde) und die Einrichtung von Produktionsgenossenschaften.
Angestoßen wurde dies durch verschiedene Denkschriften Wageners zur „Arbeiterfrage“. Der erste Punkt der Denkschrift vom 1. März 1864 lautete: “Mit jedem Jahre tritt unserem aktiven Volke ein Jahrgang von Leuten hinzu, der nach 1848 erzogen und den alten preußischen Traditionen durchaus fremd gegenübersteht. Es ist deshalb unerläßlich, des baldigsten neue Bande und neue Beziehungen zwischen Krone und Volk zu suchen.”
Wagener sah nur eine Alternative: Entweder macht sich der Staat zum Vorkämpfer einer Sozialreform und erzeugt so in den Massen ein „Staatsbewußtsein“, oder es kommt zur Revolution, die eben diesen Staat in Frage stellen wird. Bismarck entschied sich für ersteres, nach Meinung Wageners allerdings zehn Jahre zu spät und erst, nachdem durch das Sozialistengesetz (1878–1890) die Kluft zwischen Staat und Arbeiterklasse unnötig vergrößert worden war. Die kaiserliche Sozialbotschaft vom 17. November 1881, die Bismarck im Reichstag verlas, brachte zum Ausdruck, daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde.
Dem folgten die Einführung der Krankenversicherung 1883, der Unfallversicherung 1884 und die Alters- und Invaliditätsversicherung 1889, aus der 1891 die Rentenversicherung hervorging. Die Bismarcksche Sozialgesetzgebung machte Deutschland weltweit zum Vorreiter bei der staatlichen Sozialgesetzgebung. Der daraus resultierende Zusammenhalt des deutschen Volkes mit seiner Führung hatte bis zur militärischen Niederlage 1918 Bestand.
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Literatur:
- Ferdinand Lassalle: Nachgelassene Briefe und Schriften, Bd. 5, Osnabrück 1967
- Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, München 1993, S. 291–373
- Hans-Joachim Schoeps: Hermann Wagener — ein konservativer Sozialist, in: ders.: Das andere Preußen. Konservative Gestalten und Probleme im Zeitalter Friedrich Wilhelms IV., Berlin 1981, S. 203–228