1864 — Der preußische König empfängt notleidende Weber aus Schlesien

“Die Könige von Preußen sind niemals Könige der Reichen vorzugsweise gewe­sen; schon Friedrich der Große als Kro­n­prinz sagte: Quand je serai roi, je serai un vrai roi des gueux: ein König der “Geusen” [der Bet­tler]. Er nahm sich den Schutz der Armut vor. Dieser Grund­satz ist von unseren Köni­gen auch in der Fol­gezeit betätigt wor­den. An ihrem Throne hat das­jenige stets Zuflucht und Gehör gefun­den, welch­es ent­stand in Lagen, wo das geschriebene Gesetz in Wider­spruch geri­et mit dem natür­lichen Men­schen­recht. Unsere Könige haben die Emanzi­pa­tion der Leibeige­nen her­beige­führt, sie haben einen blühen­den Bauern­stand geschaf­fen; es ist möglich, daß es ihnen auch gelin­gen werde — das ernst Bestreben dazu ist vorhan­den — zur Verbesserung der Lage der Arbeit­er etwas beizu­tra­gen.” Mit diesen berühmten Worten reagierte Otto von Bis­mar­ck im preußis­chen Abge­ord­neten­haus auf Vor­würfe, die vom Abge­ord­neten Leonor Reichen­heim gegen den König erhoben wur­den. Bis­mar­ck, seit 1862 Min­is­ter­präsi­dent des Kön­i­gre­ichs Preußen, umriß damit in weni­gen Sätzen die Grundzüge sein­er Sozialpoli­tik, die in den 1880er Jahren in die Ein­führung der Unfall‑, Renten- und Kranken­ver­sicherung mün­den sollte.

Der konkrete Anlaß für die Rede war eine Auswirkung des Amerikanis­chen Bürg­erkriegs auf die europäis­che Baum­wollindus­trie, die nicht mehr genü­gend Baum­wolle aus Ameri­ka erhielt. Die Lei­d­tra­gen­den waren die angestell­ten Weber, die Kürzun­gen des ohne­hin beschei­de­nen Lohns nicht hin­nehmen kon­nten und ent­lassen wur­den. Einige von ihnen, aus ein­er Fab­rik in der Nähe des nieder­schle­sis­chen Walden­burgs, die bis in die 1840er Jahre staatlich betrieben und dann von der Fam­i­lie Reichen­heim über­nom­men wurde, wandten sich hil­fe­suchend an den preußis­chen König. Auf Bis­mar­cks Rat hin empf­ing der König die Abor­d­nung am 6. Mai 1864, miß­bil­ligte ihre Ent­las­sung und sagte ihnen seine Hil­fe zu.

Reichen­heim, der für die Fortschrittspartei im preußis­chen Land­tag saß (und erst 1866 zu einem Anhänger Bis­mar­cks und Mit­be­grün­der der Nation­al­lib­eralen Partei wurde), beklagte sich in ein­er Rede über die Tat­sache des Emp­fangs durch den König, vor allem aber darüber, daß der König den Webern aus seinem Pri­vatver­mö­gen ein Dar­lehen zur Begrün­dung ein­er Pro­duk­tion­sgenossen­schaft gewährt hat­te. Weit­er­hin mut­maßte er, daß die Ini­tia­tive dazu auf Bis­mar­ck zurück­ging, was Bis­mar­ck zu fol­gen­der Rep­lik ver­an­laßte: “Wenn der Herr Abge­ord­nete darauf aufmerk­sam macht, daß Seine Majestät in bezug auf die Rich­tung Sein­er Pri­vat­wohltätigkeit irgen­deinen Rat­ge­ber gehabt haben werde, so brauchte er nicht mit so vie­len und über die Lin­ie der Gra­zie hin­aus­ge­hen­den Gestiku­la­tio­nen auf mich zu zeigen. Der Rat­ge­ber war ich! Und ich glaube, keinen schlecht­en Rat gegeben zu haben.”

Bis­mar­ck zeigte sich an dieser Stelle ganz offen als der Antreiber ein­er Sozialpoli­tik, der es gelin­gen sollte, die „soziale Frage“, die im Zuge der Indus­tri­al­isierung drück­end gewor­den war, zu entschär­fen. Das tat er zum Teil gegen seine eige­nen Standesgenossen, vor allem aber gegen die Bestre­bun­gen des Kap­i­tals, dem spätestens seit der gescheit­erten Rev­o­lu­tion von 1848/49 weit­ge­hend freie Bahn gelassen wurde. In Preußen gab es zwar schon zuvor vere­inzelte sozialpoli­tis­che Geset­zesini­tia­tiv­en, z.B. das soge­nan­nte Preußis­che Reg­u­la­tiv von 1839, das gegen den Wider­stand der Indus­trie die Kinder­ar­beit ein­schränk­te; aber erst mit Bis­mar­ck wurde ern­sthaft und über Partei­gren­zen hin­weg an der Lösung der „sozialen Frage“ gear­beit­et.

Hans-Joachim Schoeps hat in dem Zusam­men­hang auf den wichtig­sten Ideenge­ber Bis­mar­cks, den „kon­ser­v­a­tiv­en Sozial­is­ten“, Jour­nal­is­ten und Poli­tik­er Her­mann Wagen­er, hingewiesen. Dieser war seit 1848 mit Bis­mar­ck befre­un­det und machte ihn auf den Sozial­is­ten­führer Fer­di­nand Las­salle aufmerk­sam, mit dem sich Bis­mar­ck 1863 sog­ar heim­lich traf. Dabei ging es vor allem um zwei Dinge: das gle­iche Wahlrecht (das 1866 im Nord­deutschen Bund und 1871 im Deutschen Reich, aber nicht in Preußen einge­führt wurde) und die Ein­rich­tung von Pro­duk­tion­sgenossen­schaften.

Angestoßen wurde dies durch ver­schiedene Denkschriften Wagen­ers zur „Arbeit­er­frage“. Der erste Punkt der Denkschrift vom 1. März 1864 lautete: “Mit jedem Jahre tritt unserem aktiv­en Volke ein Jahrgang von Leuten hinzu, der nach 1848 erzo­gen und den alten preußis­chen Tra­di­tio­nen dur­chaus fremd gegenüber­ste­ht. Es ist deshalb uner­läßlich, des baldig­sten neue Bande und neue Beziehun­gen zwis­chen Kro­ne und Volk zu suchen.”

Wagen­er sah nur eine Alter­na­tive: Entwed­er macht sich der Staat zum Vorkämpfer ein­er Sozial­re­form und erzeugt so in den Massen ein „Staats­be­wußt­sein“, oder es kommt zur Rev­o­lu­tion, die eben diesen Staat in Frage stellen wird. Bis­mar­ck entsch­ied sich für ersteres, nach Mei­n­ung Wagen­ers allerd­ings zehn Jahre zu spät und erst, nach­dem durch das Sozial­is­tenge­setz (1878–1890) die Kluft zwis­chen Staat und Arbeit­erk­lasse unnötig ver­größert wor­den war. Die kaiser­liche Sozial­botschaft vom 17. Novem­ber 1881, die Bis­mar­ck im Reich­stag ver­las, brachte zum Aus­druck, daß die Heilung der sozialen Schä­den nicht auss­chließlich im Wege der Repres­sion sozialdemokratis­ch­er Auss­chre­itun­gen, son­dern gle­ich­mäßig auf dem der pos­i­tiv­en Förderung des Wohles der Arbeit­er zu suchen sein werde.

Dem fol­gten die Ein­führung der Kranken­ver­sicherung 1883, der Unfal­lver­sicherung 1884 und die Alters- und Inva­lid­itätsver­sicherung 1889, aus der 1891 die Renten­ver­sicherung her­vorg­ing. Die Bis­mar­cksche Sozialge­set­zge­bung machte Deutsch­land weltweit zum Vor­re­it­er bei der staatlichen Sozialge­set­zge­bung. Der daraus resul­tierende Zusam­men­halt des deutschen Volkes mit sein­er Führung hat­te bis zur mil­itärischen Nieder­lage 1918 Bestand.

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Lit­er­atur:

  • Fer­di­nand Las­salle: Nachge­lassene Briefe und Schriften, Bd. 5, Osnabrück 1967
  • Thomas Nip­perdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, München 1993, S. 291–373
  • Hans-Joachim Schoeps: Her­mann Wagen­er — ein kon­ser­v­a­tiv­er Sozial­ist, in: ders.: Das andere Preußen. Kon­ser­v­a­tive Gestal­ten und Prob­leme im Zeital­ter Friedrich Wil­helms IV., Berlin 1981, S. 203–228