“Große Staaten, solche nämlich, die sich unter gegebenen Verhältnissen für groß halten, wollen etwas wirken auch außerhalb ihrer eigenen Grenzen.” Mit diesem Satz beginnt Golo Mann in seiner Deutschen Geschichte das mit dem Begriff „Weltpolitik“ überschriebene Kapitel. Denn, so Mann mit Blick auf das späte 19. Jahrhundert, auch der einzelne Bürger wolle, daß sein Staat sich “vor anderen Staaten auszeichnet durch Leistungen der Herrschaft, der Wissenschaft, der Wirtschaft, des Sportes.”
Und in den 1880er Jahren habe die europäische Staatengesellschaft eine ebensolche Periode des „expansiven, abenteuerlichen Ehrgeizes“ erlebt. Gerade die verhältnismäßig lang anhaltende Friedensphase, deren Gefährdung innerhalb des Kontinents aufgrund des virulenten Risikos niemand in die Waagschale habe werfen wollen, hat nach Überzeugung Manns den Kolonialismus auf anderen Kontinenten befördert. Kriege um Kolonien, so konstatiert der Historiker, seien zwischen den europäischen Mächten jedenfalls nicht entstanden.
Deutschland konnte sich erst nach dem gewonnenen Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 an diesem Wettbewerb beteiligen. Daß zu diesem Zeitpunkt bereits private Auswanderervereine existierten — einige waren bereits seit dem 17. Jahrhundert aktiv -, bereitete den neuen politischen Bestrebungen einen dankbaren Boden. Während sich die gemeinnützigen Auswanderervereine aber vor allem der Wohlfahrt und den Startperspektiven der Deutschen im Ausland verschrieben hatten, ging es nunmehr darum, Kraft und Kapital der Auswanderer gezielt dorthin zu steuern, wo dem Heimatland auch ein Nutzen entstehen könnte. Eine homogene und sinnvoll gebündelte Kolonisation, so der Anspruch, könne auch die wirtschaftliche Kraft der Deutschen im Ausland wirkungsvoll verstärken und im Idealfall einen ständigen Wirtschaftsverkehr zu Deutschland gewährleisten. Konkret sollten auf privatem Weg Produktionsfaktoren und Ansiedelungen gegründet und diese unter deutsche Schutzherrschaft gestellt werden.
Als „Lobbyverband“ wurde am 6. Dezember 1882 in Frankfurt am Main der Deutsche Kolonialverein gegründet, der zweieinhalb Jahre später seinen Sitz nach Berlin verlegte. Zu den treibenden Kräften bei der Gründung zählten der Unternehmer Johannes von Miquel, Industrielle wie Carl Ferdinand Stumm, Louis Baare und Henry Axel Bueck sowie der konservative Historiker, Publizist und Politiker Heinrich von Treitschke. Gründungspräsident wurde Hermann Fürst zu Hohenlohe-Langenburg. Als Motivation für die Gründung werden in der Literatur die Hoffnung auf Wirtschaftswachstum und die Sorge vor Überbevölkerung, aber auch der Versuch genannt, der Sozialdemokratie durch innenpolitische Entspannung den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Schon bald nach seiner Gründung hatte der Verein rund 15000 Mitglieder, die sich überwiegend aus der Politik, der Industrie, dem Handel und dem Bankwesen rekrutierten. Bereits 1887 hatte der Deutsche Kolonialverein 114 Zweigvereine, welche die Kolonisation als nationale Aufgabe protegierten. Zur Verbreitung seiner Bestrebungen diente ein eigenes Medienorgan: die Deutsche Kolonialzeitung.
Schon 1884 konstituierte sich ein „Konkurrenzverband“ in Gestalt der von Carl Peters gegründeten Gesellschaft für deutsche Kolonisation. Sie galt als radikaler und hegte das Ziel der praktischen Kolonisation. Zudem waren ihre Forderungen in ihrer Ausformung noch konkreter und versprühten zugleich einen dezidiert nationalen Impetus. So forderte sie die Begründung von deutsch-nationalen Kolonien, die ausdrückliche Unterstützung deutscher Kolonisationsunternehmungen (vornehmlich Deutsch-Ostafrikas, welches die Gesellschaft erwarb) sowie die gezielte Hinlenkung der deutschen Auswanderung in geeignete Gebiete und die Förderung deutsch-nationaler Interessen. Daß die Deutsche Kolonialgesellschaft im Jahr 1887 in der Gesellschaft für deutsche Kolonisation aufging, darf indes nicht mit einem Konzentrationsprozeß verwechselt werden: Vielmehr bildete die Fusion gleichsam den Startschuß für eine regelrechte Gründungswelle für Kolonialvereine. Innerhalb kürzester Zeit konstituierte sich ein Dutzend weiterer ähnlich ausgerichteter Vereine.
Nachdem der Reichstag noch 1880 die Samoavorlage, in der eine Staatsgarantie für die Übernahme eines bankrotten Handelshauses gefordert wurde, abgelehnt hatte, entschloß sich die deutsche Reichsregierung 1884 dazu, die Unternehmungen hanseatischer Kaufhäuser und von Kolonialvereinen unter ihren Schutz zu nehmen und deren Erwerbungen gegen fremde, besonders britische Anfechtungen zu verteidigen. Dies geschah dann erstmals bei der Handelsniederlassung des Bremer Hauses Lüderitz in Angra Pequena (heute Namibia), die gleichsam den Grundstein für die deutsche Kolonie Südwestafrika legte, für das Unterfangen jedoch auf Wasserlieferungen aus Kapstadt angewiesen war und sich zugleich von den Engländern argwöhnisch beäugt sah. In ähnlicher Schutzfunktion trat die Reichsregierung in Kamerun und Togo, 1885 in Neuguinea und Ostafrika in Erscheinung.
Reichskanzler Otto von Bismarck hatte die Kolonialbestrebungen lange Zeit nicht sonderlich ernst genommen und soll einmal bemerkt haben, seine eigene Afrikakarte liege in Europa: „hier Rußland, dort Frankreich und mittendrin wir“. Gleichwohl gelang ihm in Ostafrika die friedliche Verständigung mit England und Frankreich über die Abgrenzung der deutschen Gebiete. Im Reichstag, der dem Erwerb von Kolonien und vor allem den daraus resultierenden Kosten ebenso wie der Kanzler skeptisch gegenüberstand, sagte Bismarck: “Wir wollen keine Treibhauskolonien, sondern nur den Schutz der aus sich selbst heranwachsenden Unternehmungen.”
Bismarck versicherte gegenüber dem britischen Außenministerium, Deutschland wolle “nach wie vor keine Kolonien im englischen Sinne, sondern nur unmittelbare Protektion unserer mit Charter zu versehenden Landsleute.” Zur Sicherung der Schutzerklärung entsandte das Außenministerium auf Weisung Bismarcks im August 1884 zwei Korvetten nach Südwestafrika. Am 6. August 1884 ließ der Kapitän der „Elisabeth“ in Angra Pequena die deutsche Fahne hissen und erklärte: “Seine Majestät, der deutsche Kaiser Wilhelm I., König von Preußen, haben mir befohlen, mit Allerhöchstderen gedeckter Korvette “Elisabeth” nach Angra Pequena zu fahren und das dem Herrn Lüderitz gehörige Territorium an der Westküste Afrikas unter den direkten Schutz seiner Majestät zu stellen.” Derweil wurden vom Kapitän des Kanonenbootes „Wolf“ auch an der Mündung des Swakop und nahe der Grenze zu Angola in Cape Frio die deutsche Flagge gehißt und Grenzpfähle gesetzt. Erst dieser „Akt geheiligter Tradition“ wurde von England akzeptiert — man begrüßte am 22. September 1884 offiziell das Deutsche Reich als Nachbarn seiner Kolonie im Süden.
Golo Mann faßt die politische Wende zu „Weltpolitik“ nach 1890 in folgendem Satz zusammen: „Was in den achtziger Jahren die Improvisation einzelner war, wurde in den Neunzigern zur öffentlichen Philosophie“. Das änderte indes nichts daran, daß der Aufbau eines deutschen Kolonialreiches bereits einige Jahre später abgeschlossen und mit dem Zusammenbruch von 1918 endgültig beendet wurde. Verblieben sind unübersehbare deutsche Spuren in den früheren Kolonien wie Ost- und Südwestafrika — und die Nordseeinsel Helgoland. Sie war 1890 durch den deutsch-britischen Vertrag, der eine umfassende Abgrenzung der kolonialen Interessengrenzen sowie wechselseitigen Verzicht darstellte, zum Deutschen Reich gekommen. Die Insel Sansibar, über die sich im Gegenzug die Briten freuen durften, ist längst nicht mehr in deren Besitz.
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Literatur:
- Die Deutsche Kolonialgesellschaft 1882 bis 1907, Berlin 1908
- Horst Gründer:Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn 2004
- Golo Mann: Deutsche Geschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1958
- Mary E. Townsend: Macht und Ende des deutschen Kolonialreiches, Leipzig o.J. [1932]