Das Ereignis des Schönen — Gerhard Nebel, 1953

Die philosophis­chen Kat­e­gorien des »Ereigniss­es« und des »Schö­nen« enthal­ten die Grun­dan­liegen des über­wiegend seit Ende der 1940er Jahre pub­lizierten Werks von Nebel. Als pro­moviert­er Alt­philologe und Philosoph – stark geprägt von Stu­di­ener­fahrun­gen bei Hei­deg­ger und Jaspers – war er zeitweise als Gym­nasiallehrer tätig, stand phasen­weise mit Ernst Jünger, Carl Schmitt, Armin Mohler und Erhart Käst­ner in engem Aus­tausch und hat ein umfan­gre­ich­es pub­lizis­tis­ches, essay­is­tis­ches und philosophis­ches Werk hin­ter­lassen, das heute fast völ­lig vergessen ist. Nebel blieb zeitlebens ein radikaler Ide­al­ist – von seinem linkssozial­is­tis­chen Engage­ment in den dreißiger Jahren bis zu seinem späteren lei­den­schaftlichen Kon­ser­vatismus und Beken­nt­nis zum Chris­ten­tum, von dem auch seine Auseinan­der­set­zung mit dem Schö­nen zeugt.

Der von Hei­deg­ger und Karl Barth inspiri­erte Begriff des Ereigniss­es ist der »Uni­ver­salschlüs­sel« zu Nebels philosophis­chem Ansatz. Das Ereig­nis-Denken stellt sich gegen jenen großen Teil der philosophis­chen Tra­di­tion, die von Aris­tote­les, »dem Philosophen des Mit­tel­maßes und des Ver­standes«, her­rührt. Dage­gen set­zt Nebel die Macht und Energie des sich im Ereig­nis offen­baren­den hel­lenis­chen Dai­mon, die davon kün­den, daß »Hel­las unter dem­sel­ben Gott wie wir« stand. So ist es für ihn möglich, den »Winck­el­mann-Schmerz« zu lösen, der auch ihn  überkam, in der »Sche­une der Ref­or­ma­tion« hausend und das Schöne liebend.

Dieses Schöne ist nur deswe­gen und nur dann schön, weil in ihm der Gott erscheint und den Men­schen an die Gren­ze führt. Im Schö­nen in seinen man­nig­fachen Objek­ti­va­tio­nen – Poe­sie, Musik, Bild­kun­st, Architek­tur, Natur – begeg­net der Men­sch einem von »außen und oben« ihm wider­fahren­den Ereig­nis, das ihn »anspringt« und in einem eksta­tis­chen Augen­blick in die Prosa sein­er Real­ität ein­bricht, um ihm »Wirk­lichkeit« und Wahrheit zu schenken. Das Schöne ist wed­er eine bes­timmte for­male Eigen­schaft an einem Ding oder ein­er Tat, noch kann es je zu dauern­dem Besitz wer­den. Auch wenn sich das Unendliche in ein­er endlichen Gestalt notwendig einkör­pert und in ihr an den Garten Eden erin­nert, ist es schön nur, solange es als »wildes Fest des Seins« Heim­suchung ist, die Stürme ent­facht, die nichts an seinem Platz lassen, son­dern »Über­tritt«, »Ver­wand­lung«, »Auswan­derung« fordern. In Nebels Ver­ständ­nis ist daher auch der christliche
Glaube nichts anderes als ein Ereig­nis des Schö­nen, Gottes­di­enst in rauschhafter Entäußerung.

Ob Nebel die Verbindung von Hel­las und Chris­ten­tum denkerisch bewältigt hat, mag eben­so dahingestellt bleiben wie seine Nei­gung zu Apodik­tis­chem und zuge­spitzten Apho­ris­men. Und seine starke, aber auf­schließende sprach­liche Metaphorik – er selb­st rückt seine Dar­legun­gen »in die Nähe des Sanges, der Beschwörung« – mag erk­lären, daß sein Werk seit Ende der sechziger Jahre in Vergessen­heit geri­et. Zu Unrecht: Neben der nicht ganz gerin­gen Zahl von Pub­lika­tio­nen, die gegen­wär­tig das Schöne wiederzuent­deck­en meinen, legt Nebels tief­schür­fende Unter­suchung
den Fin­ger auf eine heute allzu gern ignori­erte Wahrheit.

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Zitat:

… ein Gott, eine Wahrheit, ein Men­sch, der iden­tis­che Gran­it, der den Humus der geschichtlichen For­men trägt. Inter­pre­ta­tion heißt: sich zum Gran­it durch­graben.

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Lit­er­atur:

  • Erik Lehn­ert: Ger­hard Nebel. Wächter des Nor­ma­tiv­en, Schnell­ro­da 2004 (Per­spek­tiv­en; 5)
  • Mar­tin Mose­bach: Bilder zu Ger­hard Nebels Jugen­derin­nerun­gen, in: Ger­hard Nebel: »Alles Gefühl ist leib­lich«. Ein Stück Auto­bi­ogra­phie, hrsg. v. Nico­lai Riedel, Mar­bach 2003, S. 223–248