Dekadenz

Dekadenz wird abgeleit­et von dem franzö­sis­chen Wort déca­dence, das wiederum auf das lateinis­che decadere – »hin­ab­steigen« – zurück­zuführen ist. Der Begriff find­et sich seit dem 16. Jahrhun­dert als Beze­ich­nung für den Ver­fall sozialer Sys­teme, vor allem von Staat­en und Kul­turen. Abge­se­hen wer­den kann in diesem Zusam­men­hang von dem Ver­such ein­er pos­i­tiv­en Umdeu­tung, wie sie zuerst Charles Baude­laire unter­nahm.

Dekadenz ist selb­stver­ständlich schon vor dem Aufkom­men des Begriffs beobachtet und analysiert wor­den. Oft galt eine über­lange Zeit des Friedens und des Wohllebens als Aus­lös­er. Aber die Betra­ch­tun­gen standen fast immer unter einem auss­chließlich moralis­chen oder religiösen Aspekt. Erst eine säku­lar­isierte Geschichts­be­tra­ch­tung kon­nte die Dekadenz als solche werten und eine umfassendere Deu­tung entwick­eln.

Im wesentlichen lassen sich drei Erk­lärun­gen für Dekadenz unter­schei­den:

1. Das Entropiemod­ell; es besagt, daß alle men­schlichen Gemein­schaften und ihre Her­vor­bringun­gen genau wie organ­is­che Wesen ein­er Alterung und einem allmäh­lichen Energiev­er­lust unter­wor­fen sind. Entsprechende Äußerun­gen find­en sich schon in der Bibel, der antiken Weisheit­slit­er­atur und Philoso­phie, aber auch in den Urkun­den viel­er außereu­ropäis­ch­er Reli­gio­nen. Dekadenz ist diesem Ver­ständ­nis nach ein allmäh­lich­er und unaufhalt­samer »Wärme­tod«. Im 19. Jahrhun­dert sind entsprechende Ideen vor allem von Carl Voll­graff oder Joseph Arthur de Gob­ineau vertreten wor­den, im 20. Jahrhun­dert von Lud­wig Klages oder Julius Evola.

2. Das Mod­ell des Zyk­lus ist davon insofern zu unter­schei­den, als entsprechende Geschichts­deu­tun­gen zwar auch auf die Natur Bezug nehmen, aber nur in einem sym­bol­is­chen Sinn. Bekan­nt sind Speku­la­tio­nen der indis­chen Mytholo­gie über die vier ver­schiede­nen »Yugas« oder ori­en­tal­is­che beziehungsweise antike Über­legun­gen zur Abfolge eines Gold­e­nen, Sil­ber­nen, Bronzenen und Ehernen Zeital­ters. Immer wird eine Katas­tro­phe angenom­men, die als Reini­gung die Voraus­set­zung für einen Neube­ginn des Zyk­lus bildet. Inner­halb der großen, Epochen abgren­zen­den Zyklen gibt es auch noch kleinere, wie die der Ver­fas­sung­sor­d­nun­gen (etwa: von der Monar­chie über die Aris­tokratie zur Demokratie zur Anar­chie, dann zur Despotie, die wiederum die Erneuerung der Monar­chie vor­bere­it­et). Die ein­flußre­ich­sten und am stärk­sten aus­gear­beit­eten zyk­lis­chen The­o­rien der Neuzeit stam­men von Oswald Spen­gler und Arnold J. Toyn­bee.

3. Bleibt schließlich die Annahme eines dauern­den Alternierens von Ver­fall und Regen­er­a­tion als Erk­lärung von Dekadenz. Sie erscheint dabei als Ver­lust von Spannkraft, die wed­er ganz zwangsläu­fig ein­tritt (wie unter 1.), noch als regel­hafter Vor­gang beschrieben wer­den kann (wie unter 2.). In diesem Fall spielt Wil­lenss­chwäche eine entschei­dende Rolle: »Die Dekadenz begin­nt, wenn die Men­schen nicht mehr fra­gen: Was wer­den wir tun? Son­dern: Was wird uns geschehen?« (Denis de Rouge­mont) Es wurzeln hierin die Sorge vor einem Zuviel an Zivil­isiertheit und eine Sehn­sucht nach der Ursprungslage, wie sie schon in den Geschicht­sphiloso­phien Giambat­tista Vicos oder Johann Got­tfried Herders zu beobacht­en war.

Die These von der Dekadenz – vor allem der gegen­wär­ti­gen Kul­tur – erscheint in viel­er Hin­sicht als kon­ser­v­a­tives Gegenkonzept zum Fortschritts­glauben der Linken und Lib­eralen. Dabei wird allerd­ings überse­hen, daß der Begriff Dekadenz auch der sozial­is­tis­chen The­o­rie bekan­nt war und von Proud­hon wie von Marx und in einem gewis­sen Sinn auch von Lenin benutzt wurde, um den ökonomis­chen wie moralis­chen Ver­fall­sprozeß der bürg­er­lichen Klasse zu beze­ich­nen. Allerd­ings ist zutr­e­f­fend, daß die kon­ser­v­a­tive Weltan­schau­ung auf­grund ihrer skep­tis­chen Haupt­ten­denz dazu neigt, eher einen Ab- als einen Auf­stieg anzunehmen.

Man darf diese Nei­gung aber nicht mit Fatal­is­mus ver­wech­seln. Es gibt zwar am äußer­sten Punkt kon­ser­v­a­tiv­er Dekaden­z­analyse die Fix­ierung auf die »große Par­al­lele« (Carl Schmitt), den Unter­gang Roms, und sog­ar ein Hof­fen auf die erneuernde Kraft des Bar­bar­en­tums, aber in erster Lin­ie doch den Wun­sch, daß ein ricor­so möglich sein werde, das heißt eine Regen­er­a­tion.

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Zitate:

Der Schwund aller starken Gefüh­le und Affek­te durch Ver­we­ich­lichung, Fortschre­it­en von Tech­nolo­gie und Phar­makolo­gie fördern eine zunehmende Intol­er­anz gegen alles im ger­ing­sten Unlust Erre­gende. Damit schwindet die Fähigkeit der Men­schen, jene Freude zu erleben, die nur durch herbe Anstren­gung beim Über­winden von Hin­dernissen gewon­nen wer­den kann. Der naturge­wollte Wogen­gang der Kon­traste von Neid und Freude verebbt in unmerk­lichen Oszil­la­tio­nen namen­los­er Langeweile.
Kon­rad Lorenz

…auch muß ich selb­st sagen, halt’ ich es für wahr, daß die Human­ität endlich siegen wird, nur fürcht’ ich, daß zu gle­ich­er Zeit die Welt ein großes Hos­pi­tal und ein­er des anderen human­itär­er Kranken­wärter sein werde.
Johann Wolf­gang von Goethe

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Lit­er­atur

  • Emile Cio­ran: Lehre vom Zer­fall [1949/1953], zulet­zt Stuttgart 1998
  • Wolf­gang Drost (Hrsg.): Fortschritts­glaube und Dekadenzbe­wußt­sein im Europa des 19. Jahrhun­derts, Hei­del­berg 1986
  • Julien Fre­und: Über die Dekadenz, in: Crit­icón 3 (1975) 31, S. 205–212
  • Thomas Mol­nar: Was ist Dekadenz?, in: Zeitschrift für Poli­tik NF 23 (1976) 4, S. 313–327
  • Karl­heinz Weiß­mann: Was ist Dekadenz?, Bad Vil­bel 2000