Der Ernstfall — Günter Rohrmoser, 1994

Gün­ter Rohrmoser, Schüler Joachim Rit­ters und Denker eines christlichen Kon­ser­vatismus in der Folge Luthers und Hegels, legte sein gewichtig­stes poli­tisch-philosophis­ches Werk nach dem Ende der Ost-West-Kon­fronta­tion vor. Rohrmoser war ein­er der weni­gen bürg­er­lichen Pro­fes­soren, die, von Hegel her, die Auseinan­der­set­zung mit der Frank­furter Schule und dem Neo­marx­is­mus aufgenom­men hat­ten und gegen die 68er-Kul­tur­rev­o­lu­tion eine neue christliche Kul­tur­rev­o­lu­tion forderten.

Zen­trale These des Werkes, das einen Fokus­be­griff Carl Schmitts auf die Gegen­wart hin ver­längert, ist es, daß sich Deutsch­land und Europa nach 1989 in ein­er tiefen geisti­gen und poli­tis­chen Krise befind­en. Die Gesellschaft dro­ht ihre Bindekraft zu ver­lieren, wenn es nicht zu ein­er kon­ser­v­a­tiv­en Erneuerung kommt (ein »Über­leben­sim­per­a­tiv«), die auch allein die lib­eralen Prinzip­i­en ein­er offe­nen Gesellschaft dauer­haft gewährleis­ten kann. Ein weltan­schaulich aus­ge­höhlter Lib­er­al­is­mus hinge­gen muß sich im Augen­blick seines Tri­umphes selb­st zer­stören.

Rohrmosers Werk geht im ersten Teil von der Lage nach dem Zusam­men­bruch des Sozial­is­mus aus. Es diag­nos­tiziert dabei »Hegels Tri­umph über Marx«, und es macht mit Hegel den Weg­fall des Staates als der Schied­srichter-Instanz zwis­chen Inter­es­sen­grup­pen und Parteien als Ursache der Krise namhaft. Der zweite Teil befaßt sich, dur­chaus detail­liert, mit dem Zus­tand der Repub­lik am Über­gang von Bonn nach Berlin: Rohrmoser diag­nos­tiziert z.B. am Beispiel der Fris­ten­lö­sungsentschei­dung des Bun­destages eine Krise der Rechtsstaatlichkeit, er klagt die Unverzicht­barkeit der Nation gegen die Geschicht­slosigkeit ein, und er hält klar­sichtig Überdehnung und dro­hen­des Ver­sagen des Sozial­staates fest. Grundle­gend dafür sind nicht allein ökonomis­che Fak­toren, son­dern das fehlende Ethos. Der dritte Teil ver­tieft diese Analyse in den Befund ein­er weitre­ichen­den Kul­tur- und Glauben­skrise. Rohrmosers Stärke, die eigene Zeit vor dem Hin­ter­grund der europäis­chen philosophis­chen Tra­di­tion von 2000 Jahren seit Sokrates in Gedanken zu erfassen, tritt hier beson­ders ein­drucksvoll zutage. Reli­gion wird, nach dem Zusam­men­bruch der Ide­olo­gien, zum poli­tis­chen Fak­tor. Frei­heit kann nur aus sit­tlich­er Bindung im Sinne des christlichen Glaubens an die Durch­brechung des Todes begrün­det wer­den, hält Rohrmoser mit Luther und mit Hegels Konzep­tion des sit­tlichen Staates fest. In der Wiedergewin­nung der so konkretisierten christlichen Frage als Fun­da­ment eines neuen Kon­ser­vatismus sieht er die Möglichkeit, die »tödliche Dialek­tik« zwis­chen Nihilis­mus, neg­a­tivem Lib­er­al­is­mus ein­er­seits und Fun­da­men­tal­is­men ander­er­seits zu durch­brechen.

Insofern mün­det das Werk nicht zufäl­lig in einem ful­mi­nan­ten Plä­doy­er für einen lib­eralen Kon­ser­vatismus. Er wird antiu­topisch sein, sich aber auch von tech­nokratis­ch­er Plan­barkeit oder Prag­matik unter­schei­den. Erkennbar set­zt Rohrmoser, zeitweise ein­flußre­ich­er Berater von Hans Fil­binger und F. J. Strauß, mit Zugang zu maßge­blichen Kreisen der Wirtschaft, poli­tisch nach wie vor auf die CDU. Die Kon­se­quenz sei keines­falls, daß sich eine starke rechte, etwa faschis­tis­che, Partei kon­sti­tu­iert, son­dern daß sich ein neuer lib­eraler Kon­ser­vatismus aus den Quellen von Kul­tur, Geschichte und Reli­gion begrün­den muß, um ein­er Ero­sion durch die Extreme von links und rechts gle­icher­maßen zu wider­ste­hen.

Wichtig bleibt Rohrmosers Buch als Diag­nose des kul­turellen Vaku­ums der spät­mod­er­nen west­lichen Gesellschaften. Es bietet staats‑, kul­tur- und reli­gion­sphilosophis­che Antworten in Zeit­en des clash of civ­i­liza­tions vor einem beein­druck­enden geisti­gen Fun­da­ment, das von Sokrates und Pla­ton über die Ideengeschichte des Chris­ten­tums, den deutschen Ide­al­is­mus bis in die Gegen­wart reicht. Dabei zeigen sich aber auch charak­ter­is­tis­che Schwächen des Autors: Rohrmoser gebraucht ideen­poli­tis­che Begriffe wie »Kon­ser­vatismus«, »Lib­er­al­is­mus« gle­ich­sam ide­al­typ­isch, ohne sich auf ihre konkreten begriff­s­geschichtlichen Aus­prä­gun­gen dif­feren­ziert einzu­lassen. Er neigt zu Kurz­schlüssen von der philosophis­chen Ein­sicht auf die Detail­prob­leme zeit­genös­sis­ch­er Poli­tik. Daß er deren intellek­tuelle Aufwe­ichung wort­mächtig beschreibt, ist ein Ver­di­enst, aus dem aber nicht tak­tisch-strate­gis­che Fol­gerun­gen gewon­nen wer­den.

Rohrmosers Buch hat­te eine beträchtliche Res­o­nanz, zumin­d­est eben­so in der SPD wie in der bürg­er­lichen Mitte. Peter von Oertzen nan­nte in einem Artikel der Zeit Rohrmoser gle­icher­maßen einen bedeu­ten­den Kon­ser­v­a­tiv­en und Lib­eralen. In der rus­sis­chen Akademie der Wis­senschaften wurde das Werk disku­tiert, es liegt in ein­er Über­set­zung ins Rus­sis­che vor und trug Rohrmoser sein­erzeit großes Renom­mee ein. Ins­ge­samt markiert der Ern­st­fall, nach einem ersten Höhep­unkt zwis­chen Ende der sechziger und Ende der siebziger Jahre, eine zweite Hausse von Rohrmosers
öffentlich­er Wirk­samkeit. Dazu trug nicht zulet­zt die gün­stige pub­lizis­tis­che Sit­u­a­tion nach der deutschen Ein­heit bei – ein Win­dow of oppor­tu­ni­ty, das nach weni­gen Jahren geschlossen sein sollte.

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Zitat:

Es ist die Frage, was unsere Gesellschaft noch zusam­men­hal­ten wird, wenn die momen­tane Ero­sion des Sozial­staates, ja, des Staates im ganzen anhält. Unser Land hat­te nach 1945 keine poli­tis­che Ver­ant­wor­tung in der Welt zu tra­gen. Poli­tisch weit­ge­hend ent­lastet, kon­nte es sich exzes­siv der Förderung des materiellen Wohl­standes hingeben. Der Sozial­staat hat den Deutschen ten­den­ziell sämtliche Risiken und Sor­gen abgenom­men. Sie kon­nten sich damit unge­hemmt und uneingeschränkt der Emanzi­pa­tion eines jeden durch jeden hingeben. Wir haben noch nicht begrif­f­en, daß diese Zeit vor­bei ist.

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Lit­er­atur:

  • Har­ald Seu­bert: Die Krise der Mod­erne in Gedanken gefasst – Gün­ter Rohrmoser. Ein philosophis­ches Por­trait, in: Tamen! Gegen den Strom. Gün­ter Rohrmoser zum 80. Geburt­stag, hrsg. v. Philipp Jen­ninger, Rolf W. Peter, Har­ald Seu­bert, Stuttgart 2007, S. 23–73