Der Faschismus in seiner Epoche — Ernst Nolte, 1963

Hin­ter dem nüchter­nen Titel der 1963 erschiene­nen umfan­gre­ichen Arbeit, mit welch­er der sein­erzeit noch unbekan­nte Ernst Nolte sich im darauf­fol­gen­den Jahr habil­i­tierte, ver­barg sich ein küh­n­er Wurf, in dem bere­its alle großen Leit­mo­tive seines Lebenswerkes anges­timmt wer­den. Die ide­olo­giehis­torische Per­spek­tive wie die philosophis­che Prob­lem­stel­lung haben den Faschis­mus in sein­er Epoche selb­st zu einem epochalen Werk wer­den lassen.

Ein geschichtswis­senschaftlich­es Novum stellte die Ein­führung des marx­is­tisch kon­t­a­minierten Faschis­muskonzepts dar, mit dem Nolte sich der seit den fün­fziger Jahren vorherrschen­den Total­i­taris­mus­the­o­rie offen­siv ent­ge­gen­stellte. Mit Hil­fe der typol­o­gis­chen Meth­ode Max Webers entwick­elt er gegen den gängi­gen »sin­gu­lar­isieren­den« Faschis­mus­be­griff, welch­er der Bewe­gung Mus­soli­n­is vor­be­hal­ten war, einen »gener­ischen« Begriff des Faschis­mus, der auf einem »faschis­tis­chen Min­i­mum« von Merk­malen basiert, die zahlre­ichen poli­tis­chen Bewe­gun­gen im Zeital­ter der Weltkriege gemein­sam waren. Seine europäis­che Per­spek­tive erlaubt es Nolte, die tief­sten ide­olo­giegeschichtlichen Ursprünge des Faschis­mus in der franzö­sis­chen Gegen­rev­o­lu­tion
aufzus­püren und so zugle­ich das neg­a­tiv nation­al­is­tis­che Par­a­dig­ma des deutschen Son­der­weges für die Inter­pre­ta­tion des Nation­al­sozial­is­mus zurück­zuweisen.

Mit sein­er Gesamt­darstel­lung der großen Haupt­strö­mungen des Faschis­mus bietet Nolte ein grandios­es Stück ver­gle­ichen­der Geschichts­be­tra­ch­tung: Die Action fran­caise, der ital­ienis­che Faschis­mus und der Nation­al­sozial­is­mus find­en sich als »Früh­faschis­mus«, »Nor­mal­faschis­mus« und »Radikalfaschis­mus« zu ein­er epochalen Trias zusam­mengestellt, als deren charak­ter­is­tis­chstes Wesens­merk­mal ein radikaler Anti­marx­is­mus her­vorsticht.

Für die linke Prämisse der recht­en Kon­se­quenz ste­ht schon Mus­soli­ni selb­st ein, dessen marx­is­tis­che Lehr­jahre dialek­tisch in die Kind­heit­s­jahre der faschis­tis­chen Bewe­gung übergin­gen und der noch als Duce eine feindliche Nähe zu Lenin emp­fand. Darüber hin­aus sucht Nolte den für alle europäis­chen Faschis­men kon­sti­tu­tiv­en Anti­marx­is­mus als späteste und radikalste
Aus­prä­gung jen­er gegen­rev­o­lu­tionären Geis­testra­di­tion auszuweisen, die sich nach der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion her­aus­ge­bildet hat­te. Bere­its Graf Gob­ineau stellte dem his­torischen Begriff der bürg­er­lichen »Klasse« den aris­tokratis­chen ein­er natür­lichen »Rasse« ent­ge­gen, und Eduard Dru­mont pari­erte das linke Feind­bild des »Kap­i­tal­is­ten« mit dem recht­en des »Juden«. Die Geschichte dieses von selb­stkri­tis­chem Lib­er­al­is­mus zu einem antilib­eralen Kon­ser­vatismus sich radikalisieren­den Anti­mod­ernismus bildet die Vorgeschichte der Action fran­caise, deren geistiger Anführer Charles Mau­r­ras diese ras­sis­tis­chen und anti­semi­tis­chen Strö­mungen in sich auf­nahm und in früh­faschis­tis­che Bah­nen lenk­te. Mau­r­ras’ mil­i­tantes Beken­nt­nis zu ein­er »kon­ser­v­a­tiv­en Rev­o­lu­tion« zeugt von einem ver­bit­terten Wider­stand der alten aris­tokratis­chen Leben­sor­d­nung gegen die mod­er­nen Fortschrittsideen des Lib­er­al­is­mus und Sozial­is­mus, als deren his­torisches Urbild er den jüdis­chen Prophetismus mit seinem lebens­feindlichen Tran­szen­den­z­pos­tu­lat attack­ierte.

Hitler schließlich brachte die der gegen­rev­o­lu­tionären Ide­olo­gie Frankre­ichs entwun­dene anti­semi­tis­che Rassen­lehre als einen deutschen Gege­nen­twurf zur marx­is­tis­chen Rev­o­lu­tion­slehre in Stel­lung. Im Zuge der biol­o­gis­tis­chen Imi­ta­tion des sozial­is­tis­chen Fein­des indessen sollte der Nation­al­sozial­is­mus den Charak­ter eines rassenan­tisemi­tisch zugerüsteten »Bolscho-Nation­al­is­mus« annehmen, was eine eben­so para­doxe wie tragis­che Selb­stauf­gabe Deutsch­lands bedeutete, da »der schärf­ste deutsche Selb­st­be­haup­tungskampf gebun­den war an eine geistige Kapit­u­la­tion von nichts ver­scho­nen­der Radikalität «. Gle­ich­wohl erteilt Nolte unter Ein­satz sein­er alle Befan­gen­heit­en ausklam­mern­den phänom­e­nol­o­gis­chen Meth­ode der »Sache selb­st« der nation­al­sozial­is­tis­chen Ide­olo­gie das Wort, und sofern sie nur die let­zten Kon­se­quen­zen aus der bestechen­den Logik des gegen­rev­o­lu­tionären Denkens zog, imponiert Hitlers Weltan­schau­ung als »ein Ideenge­bäude, dessen Fol­gerichtigkeit und Kon­sis­tenz den Atem ver­schlägt«.

Das tief­ste Wesen des Faschis­mus erschließt sich jedoch nicht aus seinem ratio­nalen Kern, son­dern vielmehr aus seinem irra­tionalen Über­schuß. Es ist die epochale Angst vor den rev­o­lu­tionären Umwälzun­gen der Mod­erne, die Nolte als »Quelle des Faschis­mus« aus­macht und die zumal für den deutschen Radikalfaschis­mus zum »all­be­herrschen­den Unter­grund« wer­den sollte, nach­dem sich Hitlers par­tiku­lare Angst vor dem Unter­gang des Deutsch­tums zu ein­er uni­versellen vor der Ver­wüs­tung des Plan­eten durch den Marx­is­mus aus­geweit­et hat­te. Das Umschla­gen dieser Angst in Haß trieb den ide­ol­o­gis­chen Wahn zu irra­tionaler Gewalt­samkeit und ließ hin­ter dem »bin­nen­poli­tis­chen« Anti­marx­is­mus des Faschis­mus dessen »radikal poli­tis­che«, das »Urwe­sen der Poli­tik« selb­st bloßle­gende Bes­tim­mung zum »Todeskampf der sou­verä­nen, kriegerischen, in sich antag­o­nis­tis­chen Gruppe« her­vor­brechen. Dieser par­tiku­lar­is­tis­che Rassenkampf der vorgeschichtlichen »Natur« des Men­schen richtete sich schließlich gegen dessen exem­plar­isch vom Juden­tum verkör­perte »wider­natür­liche« Geschichtsmächtigkeit und uni­ver­sal­is­tis­che Weltof­fen­heit über­haupt. Der­art offen­barte der Radikalfaschis­mus sein »trans­poli­tis­ches« Wesen als ver­wildert­er und ver­nich­tungs­bere­it­er »Wider­stand gegen die Tran­szen­denz«. Kon­se­quent liegt für Nolte die Einzi­gar­tigkeit von Auschwitz darin beschlossen, daß die Juden, »die als Bazillen ver­til­gt wur­den, nicht als unglück­liche Objek­te eines  wider­wär­ti­gen Ver­brechens star­ben, son­dern als Stel­lvertreter bei dem verzweifelt­sten Angriff, der je gegen das men­schliche Wesen und die Tran­szen­denz in ihm geführt wurde«.

Mit seinem exis­ten­zphilosophis­chen Begriff der »Tran­szen­denz« sucht Nolte die in the­o­retis­ch­er Aufk­lärung wie im prak­tis­chen Fortschritt sich vol­lziehende »Selb­stüber­schre­itung« des Men­schen zu umreißen und der­art nicht weniger als die con­di­tio humana selb­st als let­ztes radikalfaschis­tis­ches Ver­nich­tungsziel freizule­gen. Dieser Inter­pre­ta­tion Noltes ste­ht Niet­zsche Pate, der das Schick­sal des europäis­chen Nihilis­mus am radikalsten voraus­gedacht hat, der aber auf­grund sein­er apoli­tis­chen Radikalität ger­ade nicht als poli­tis­ch­er Vor­läufer fir­miert, son­dern
vielmehr als »das spir­ituelle Zen­trum, auf das hin aller Faschis­mus grav­i­tieren muß«.

Die Wirkungs­geschichte des Nolteschen Hauptwerkes ist vielfältig: Die Ein­führung eines all­ge­meinen Faschis­mus­be­griffs bere­it­ete der ver­gle­ichen­den Faschis­mus­forschung den Weg, welch­er Nolte selb­st mit Die faschis­tis­chen Bewe­gun­gen (1966) einen gülti­gen Maßstab set­zte. Zugle­ich schien Noltes Konzept dem neo­marx­is­tis­chen Antifaschis­mus zuzuar­beit­en, was in der kon­ser­v­a­tiv­en Geschichtswis­senschaft eben­so für Irri­ta­tion sorgte wie sein emphatis­ch­er Ver­such, den Nation­al­sozial­is­mus von Auschwitz her zu deuten. Angesichts der geschicht­spoli­tis­chen
Bedeu­tung des über­aus erfol­gre­ichen Werkes ist dessen phänom­e­nol­o­gisch-philosophis­ch­er Hor­i­zont wei­thin uner­schlossen geblieben.

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Zitat:

Faschis­mus ist Anti­marx­is­mus, der den Geg­n­er durch die Aus­bil­dung ein­er radikal ent­ge­genge­set­zten und doch benach­barten Ide­olo­gie und die Anwen­dung von nahezu iden­tis­chen und doch charak­ter­is­tisch umgeprägten Meth­o­d­en zu ver­nicht­en tra­chtet, stets aber im undurch­brech­baren Rah­men nationaler Selb­st­be­haup­tung und Autonomie.

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Aus­gabe:

  • Taschen­buchaus­gabe mit einem »Rück­blick nach fün­fund­dreißig Jahren«, München: Piper 2000

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Lit­er­atur:

  • Siegfried Ger­lich: Ernst Nolte. Por­trait eines Geschichts­denkers, Schnell­ro­da 2009
  • Volk­er Kro­nen­berg: Ernst Nolte und das total­itäre Zeital­ter. Ver­such ein­er Ver­ständi­gung, Bonn 1999