Deutschland

Deutsch­land beze­ich­net heute einen Staat, dessen Gebi­et gegenüber dem, was tra­di­tionell zu Deutsch­land gehörte, extrem reduziert ist. Deutsch­land hat sowohl im West­en (Elsaß, Lothrin­gen, Eupen-Malm­e­dy) als auch im Osten (Ost­preußen, Ost­bran­den­burg, Hin­ter­pom­mern, Schle­sien) und Süden (Öster­re­ich, Südtirol) von seinem Kernbe­stand ver­loren, nicht zu reden von Randter­ri­to­rien (West­preußen, Nord­schleswig) mit tra­di­tionell gemis­chter Bevölkerung oder den Bere­ichen, die zwar lange Zeit zum Reich gehört hat­ten, sich aber aus eigen­em Entschluß ablösten wie die Nieder­lande, Bel­gien und Lux­em­burg.

Der innere Zusam­men­halt Deutsch­lands war auf­grund ein­er lang­dauern­den Schwäche des poli­tis­chen Zen­trums in erster Lin­ie ein kul­tureller, den vor allem die ein­heitliche Sprache gewährleis­tete. Deutsch­land mochte zeitweise nur als »geo­graphis­ch­er Begriff« erscheinen, tat­säch­lich gab es eine rel­a­tiv homo­gene Bevölkerung, die auch ein Kollek­tivbe­wußt­sein besaß, das seinen Bezugspunkt nicht nur in der jew­eils gel­tenden Obrigkeit hat­te, son­dern auch in der Vorstel­lung eines deutschen »Volkes« und ein­er deutschen Iden­tität.

Trotz der Zurück­weisung der These von einem deutschen »Urvolk« (Johann Got­tlieb Fichte) bleibt deshalb die Tat­sache, daß das seit dem Mit­te­lal­ter als Deutsch­land beze­ich­nete Gebi­et über einen sehr lan­gen Zeitraum, im Grunde seit der Spä­tan­tike, ein und dieselbe Eth­nie besiedelt hat, deren Vor­fahren haupt­säch­lich als ger­man­is­che Stamme­sange­hörige gekom­men waren. Ihnen assim­i­lierten sich im Laufe der Zeit auch kleinere roman­is­che und slaw­is­che Bevölkerung­steile.

Zur poli­tis­chen Ein­heit wurde Deutsch­lands allerd­ings erst nach den Teilun­gen des Karl­sre­ich­es, die schließlich zur Entste­hung eines unab­hängi­gen nichtro­man­isierten Ost­franken führten. Es erlangte seit dem 10. Jahrhun­dert Eigen­staatlichkeit und stieg in kurz­er Zeit zur ersten Macht des Abend­lan­des auf. Damit ein­her ging die Über­nahme der Kaiser­würde und die Vorstel­lung, daß die Deutschen die römis­che Tra­di­tion fort­set­zen müßten, ein Gedanke, der ein­er­seits den Auf­stieg des bald so genan­nten »Heili­gen Römis­chen Reich­es« förderte, ander­er­seits zur dauer­haften Ablenkung der Kaiser von Ker­nauf­gaben im Reich zugun­sten von Nebe­nauf­gaben in Ital­ien führte, die allerd­ings auf­grund der christlichen Weltauf­fas­sung keineswegs als Nebe­nauf­gaben erschienen.

Diese Entwick­lung hat zu einem sukzes­siv­en Machtver­lust geführt, der in der stau­fis­chen Zeit begann, unter den Lux­em­burg­ern vorüberge­hend aufge­fan­gen wer­den kon­nte, aber unter den Hab­s­burg­ern nur noch durch Ver­lagerung der poli­tis­chen Gewichte zugun­sten der eige­nen Dynas­tie zu kom­pen­sieren war. Die Beant­wor­tung der seit dem Ende des Mit­te­lal­ters immer drän­gen­deren Deutschen Frage nach ein­er deutschen Nation und einem deutschen Kaiser kon­nte auf diesem Weg nicht gelin­gen. Das­selbe wird man auch in bezug auf Luthers Ref­or­ma­tion sagen müssen, die in ihrem Ursprung auch eine nationale Inten­tion hat­te, aber wegen der Ver­schränkung mit dem prinzip­iellen, uni­ver­sal-christlichen Anspruch aus ähn­lichen Grün­den scheit­erte wie die Reich­sidee.

Die Überspan­nung der Kräfte führte hier wie dort dazu, daß eine Verdich­tung der nationalen Exis­tenz qua poli­tis­ch­er Organ­i­sa­tion wie sie in Spanien, Frankre­ich, Eng­land, Schot­t­land und den skan­di­navis­chen Reichen gelang, in Deutsch­land nicht zu erre­ichen war. In der Kon­se­quenz wurde Deutsch­land vom Sub­jekt zum Objekt europäis­ch­er Poli­tik. Schon der Dreißigjährige Krieg war weniger innerdeutsch­er Kon­fes­sion­skampf als Aus­trag eines Kon­flik­ts zwis­chen den Großmächt­en der Zeit, die Deutsch­land als Schlacht­feld nutzten. Diese Sit­u­a­tion entschärfte sich nach dem West­fälis­chen Frieden von 1648 zwar, führte aber vom 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhun­derts immer wieder dazu, daß das in sich zer­split­terte Reich zum Spiel­ball auswär­tiger Inter­essen wurde, die geschickt die – kon­fes­sionellen wie dynas­tis­chen – Kon­flik­te in Deutsch­land zu nutzen wußten.

Im Geisti­gen erwiesen sich Reich­stra­di­tion und Ref­or­ma­tion, extremer Föder­al­is­mus (Bund) und das Fehlen eines Zen­trums allerd­ings nicht nur als Hypothek, son­dern auch als Stim­u­lans eines Son­der­be­wußt­seins, das sich auf vie­len Feldern – beson­ders deut­lich erkennbar in Musik, Philoso­phie und Lit­er­atur – als frucht­bar erwies; Roman­tik und Ide­al­is­mus waren nur später und beson­ders sin­n­fäl­liger Aus­druck dieser Eige­nart. Die dann unter dem Ein­druck der großen Nation­al­isierung, die Europa seit der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion erfaßt hat, zu dem Bedürf­nis führte, das Deutsche nicht nur im Kul­turellen oder »Volk­lichen« – »Völkischen«, son­dern auch im Poli­tis­chen neu zu bes­tim­men.

Selb­stver­ständlich spielte dabei die Idee ein­er Syn­these aus spez­i­fis­ch­er Iden­tität und all­ge­meinen Prinzip­i­en poli­tis­ch­er Organ­i­sa­tion eine wichtige Rolle, aber zu ganz befriedi­gen­den Lösun­gen kam man nicht. Auch und ger­ade nach der Schaf­fung des klein­deutschen Reich­es gab es ein tief emp­fun­denes Unbe­ha­gen, wegen des Auss­chlusses von Deutsch-Öster­re­ich aus dem nationalen Ver­band und wegen des ungek­lärten Prob­lems, wieviel spez­i­fisch Deutsches in diesem Deutsch­land bleiben werde.

Diese Deutsche Frage kon­nte selb­st in der Phase der Seku­rität während des Wil­helmin­is­mus nur zurück­gestellt, aber nicht überzeu­gend beant­wortet wer­den. Ihre Vir­u­lenz zeigte sich aber erst unter den Bedin­gun­gen der Zwis­chenkriegszeit, als sich infolge ein­er trau­ma­tis­chen Nieder­lage und der Härte des Ver­sailler Ver­trages die Deutschen auf sich selb­st zurück­ge­wor­fen sahen, verkeilt in der Mitte des Kon­ti­nents zwis­chen einem rach­süchti­gen und zunehmend als fremd wahrgenomme­nen West­en und einem feindlichen Osten. Das katas­trophale Scheit­ern des Aus­bruchsver­suchs hat diese Prob­lematik nach dem Zweit­en Weltkrieg nur noch ver­schärft.

Allerd­ings haben die Deutschen unter dem außergewöhn­lichen Druck ihrer Lage als »Die Besiegten von 1945« (Hans-Joachim Arndt) alle möglichen Auswege erprobt, um sich nicht mehr mit sich und das heißt mit Deutsch­land befassen zu müssen. Daß ihnen das nicht gelin­gen kon­nte, war spätestens mit dem Prozeß der Wiedervere­ini­gung der Rest­ter­ri­to­rien deut­lich. Was daraus für die Zukun­ft fol­gt, ist allerd­ings undeut­lich, die »Endlö­sung der Deutschen Frage« (Robert Hepp) durch das physis­che Erlöschen des Volkes dur­chaus denkbar.

– — –

Zitat:

Der charak­ter­is­tis­chste, wesentlich­ste Zug dieses großen, stolzen und beson­deren Volkes bestand schon seit dem ersten Augen­blick seines Auftretens in der geschichtlichen Welt darin, daß es sich niemals, wed­er in sein­er Bes­tim­mung noch in seinen Grund­sätzen, mit der äußer­sten west­lichen europäis­chen Welt hat vere­ini­gen wollen, das heißt mit allen Erben der altrömis­chen Bes­tim­mung.
Fjodor M. Dos­to­jew­s­ki

– — –

Lit­er­atur: