Ernstfall

Ern­st­fall ist ein Begriff, der nor­maler­weise in den Zusam­men­hang der Mil­itär­sprache gehört. Krieg ist der Ern­st­fall schlechthin, das heißt eine Sit­u­a­tion, in der Entschei­dun­gen unab­d­ing­bar wer­den, weil es um Leben oder Tod, Sein oder Nicht­sein geht. Ähn­lich­es gilt aber auch für andere Lagen, die durch beson­dere Gefährdung gekennze­ich­net sind: Rev­o­lu­tio­nen, Naturkatas­tro­phen, Angriffe auf das Indi­vidu­um.

Die beson­dere Prob­lematik des Ern­st­falls ist unmit­tel­bar ein­sichtig, eben­so wie die Nei­gung des Men­schen zur Ern­st­fallmei­dung. In mod­er­nen Gesellschaften gibt es gigan­tis­che Appa­rate, die – von der sozial­staatlichen Ver­sorgung bis zur Haushalt­stech­nik – keinem anderen Zweck dienen als dem, einen Ern­st­fall zu ver­hin­dern. Das unter­schei­det sie von prim­i­tiv­en, die die Per­ma­nenz des Ern­st­falls bes­timmte: Das Aus­bleiben der Jagdbeute oder des Fis­chfangs, der Fehlschlag von Ern­ten oder Tierzucht, der Aus­bruch von unbekan­nten Krankheit­en, die Attacke durch Feinde führten zwar auch hier dazu, daß man Vor­sorge zu tre­f­fen suchte (die Reli­gion spielte in dem Zusam­men­hang eine entschei­dende Rolle), aber niemals kon­nte der Ern­st­fall in dem Maße aus­geschal­tet wer­den wie in der heuti­gen Welt.

Für die »Unwahrschein­lichkeit unser­er mod­er­nen Exis­tenz« (Wil­helm E. Mühlmann) ist allerd­ings ein Preis zu bezahlen, der den wenig­sten bewußt ist: Die Appa­rate, die vor dem Ern­st­fall schützen, nehmen dem Men­schen gle­ichzeit­ig viel von sein­er Selb­ständigkeit und sie deformieren ihn in der Weise, daß er die Möglichkeit des Ern­st­falls über­haupt zu ver­drän­gen sucht. Dem Gefährlichen wird seine Vernün­ftigkeit bestrit­ten. Ein Slo­gan wie »Der Frieden ist der Ern­st­fall«, den die Bun­deswehr lange propagierte, kann als Symp­tom ein­er solchen Ver­drän­gung ange­se­hen wer­den.

Eine real­is­tis­che Betra­ch­tung vor allem der poli­tis­chen Ver­hält­nisse muß demge­genüber darauf behar­ren, daß der Ern­st­fall der cas réel – der »wirk­liche Fall« (Rüdi­ger Alt­mann) ist. Nur im Ern­st­fall wird deut­lich, was ein Staat, was eine Armee oder was ein einzel­ner taugt. Erst was sich in der Gefahr bewährt, kann als geprüft betra­chtet wer­den. Das gilt vor allem für die poli­tis­che Ord­nung, die fähig sein muß, ihre Feinde zu bes­tim­men und – im Ern­st­fall – wirkungsvoll zu bekämpfen. Daher erk­lärt sich der Nach­druck Carl Schmitts, wenn er fest­stellte, daß »sou­verän ist, wer über den Aus­nah­mezu­s­tand entschei­det«. Mit dem Aus­nah­mezu­s­tand wird der Ern­st­fall als gegeben erk­lärt.

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Zitate:

Man hört soviel auf den Kanzeln von der Unsicher­heit, Eit­elkeit und Unstetigkeit zeitlich­er Dinge sprechen, aber jed­er denkt dabei, so gerührt er auch ist, ich werde doch das Meinige behal­ten. Kommt nun aber diese Unsicher­heit in Form von Husaren mit blanken Säbeln wirk­lich zur Sprache und ist es Ernst damit, dann wen­det sich jene gerührte Erbaulichkeit, die alles vorher­sagte, dazu, Flüche über die Erober­er auszus­prechen. Trotz­dem aber find­en Kriege .… statt; die Saat­en schießen wieder auf, und das Gerede ver­s­tummt vor den ern­sten Wieder­hol­un­gen der Geschichte.
Georg Wil­helm Friedrich Hegel

Man muß die Feinde fürcht­en in der Ferne, um sie nicht mehr zu fürcht­en in der Nähe, und sich freuen, wenn sie her­an­rück­en.
Condé

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Lit­er­atur: