Faschistische Ideologie — Zeev Sternhell, 1976

Man kann den Titel dieses Buch­es, dessen Text ursprünglich als Auf­satz für einen Sam­mel­band gedacht war, dur­chaus pro­gram­ma­tisch nehmen, denn zu den Beson­der­heit­en von Stern­hells Faschis­mus-Inter­pre­ta­tion gehört, daß er den Faschis­mus in erster Lin­ie als Ide­olo­gie betra­chtet, nicht als Cam­ou­flage eines Herrschaftssys­tems oder eines anderen, älteren Weltan­schau­ungskonzepts, nicht als eigentlich inhalt­sleere »Anti«-Haltung. Diese Behaup­tung speist sich aus den detail­lierten Unter­suchun­gen, die der israelis­che His­torik­er im Hin­blick
auf die Geschichte des franzö­sis­chen Pro­to-Faschis­mus geliefert hat. Im Zen­trum stand dabei die Auflö­sung der tra­di­tionellen Mei­n­ungslager links und rechts im Gefolge der Kriegsnieder­lage von 1871. Ein Prozeß, der in der Drey­fus-Affäre seinen Höhep­unkt erre­ichte und zur Formierung neuer Grup­pierun­gen führte, die sich aus ent­täuscht­en Linken, Lib­eralen und Kon­ser­v­a­tiv­en
rekru­tierten.

Obwohl sie so ver­schieden­er Herkun­ft waren, einte sie der Zweifel an den früheren Ver­heißun­gen und den alten Äng­sten um das Beste­hende. Sie sahen sich durch die großen Ideen­be­we­gun­gen der Zeit in der Überzeu­gung bestärkt, daß Europa und mit ihm das Vater­land der dro­hen­den Dekadenz ent­ge­hen kön­nte, wenn man die Vitalkräfte regener­iere. Eine entschei­dende Bedeu­tung hat­te in diesem Kon­text die Idee eines »nationalen Sozial­is­mus« oder »sozialen Nation­al­is­mus«, der in der Lage sein würde, die Arbeit­er­schaft in den Staat einzu­binden und diesem so frische Kräfte zuzuführen, die notwendig helfen wür­den, ihn für die kom­menden Kämpfe zu stärken.

Als sich die Erwartung eines großen Kon­flik­ts in Gestalt des Ersten Weltkriegs erfüllte, kon­nte der Faschis­mus zu ein­er massen­tauglichen Ide­olo­gie wer­den, geeignet, ein Gegen­mod­ell zu Kom­mu­nis­mus wie Lib­er­al­is­mus zu liefern und die Bevölkerung zu mobil­isieren. Stern­hell meint, daß nur unter diesem Aspekt – der die ide­ol­o­gis­che Attrak­tiv­ität des Faschis­mus betont – ver­ständlich werde, warum so viele faschis­tis­che Bewe­gun­gen im Europa der Zwis­chenkriegszeit Gefol­gschaft fan­den, sich aus eigen­er Kraft oder mit Hil­fe von außen durch­set­zen kon­nten und vom »Antifaschis­mus« nur durch natur­widrige Bünd­nisse und mit Gewalt niederzuw­er­fen waren.

Es hat diese Deu­tung des Faschis­mus Stern­hell viel Kri­tik in seinem eige­nen Lager – dem der Linken – einge­tra­gen, allerd­ings darf man nicht verken­nen, daß seine Bere­itschaft, den Faschis­mus als ide­ol­o­gis­ches Phänomen ernst zu nehmen, nicht aus Sym­pa­thie gespeist wird, son­dern aus dem Bewußt­sein ein­er beson­deren Gefährlichkeit der faschis­tis­chen Ver­suchung für
jede in die Krise ger­atene mod­erne Gesellschaft.

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Zitat:

Es war nicht die Stärke der Recht­en, son­dern es waren ihre rel­a­tive Schwäche, ihre Äng­ste und ihre Anfälle von Panik, die die wesentlichen Voraus­set­zun­gen für den Erfolg des Faschis­mus bilde­ten.

Lit­er­atur:

  • Zeev Stern­hell: Die Entste­hung der faschis­tis­chen Ide­olo­gie. Von Sorel zu Mus­soli­ni, Ham­burg 1999
  • Karl­heinz Weiß­mann: Autoren­por­trait Zeev Stern­hell, in: Sezes­sion (2010), Heft 34