Man, Hendrik de, Sozialpsychologe, 1885–1953

Der Flame De Man war sowohl sozial­is­tis­ch­er The­o­retik­er von Welt­for­mat als auch Ver­trauensmann des bel­gis­chen Königs Leopold III., Pro­fes­sor mit großbürg­er­lichem Hin­ter­grund und Vor­sitzen­der der bel­gis­chen sozial­is­tis­chen Partei. Die Syn­these von Nation­al­is­mus und Sozial­is­mus die er suchte, war nicht die der deutschen Nation­al­sozial­is­ten – wenn es die über­haupt gab. Sein „Kul­tur­sozial­is­mus“ war kon­ser­v­a­tiv, die soziale Ord­nung, die er anstrebte, rev­o­lu­tionär. Im poli­tis­chen Tages­geschäft war er denkbar ungeschickt, seine Kol­lab­o­ra­tion mit den Deutschen ein Fiasko, das er schon 1941 ent­täuscht been­dete.

De Man, geboren am 17. Novem­ber 1885 in Antwer­pen, bezog nach dem Schu­la­b­schluß die Uni­ver­sität Gent, aber die ver­wies ihn 1905 wegen Beteili­gung an ein­er Kundge­bung zu Gun­sten der rus­sis­chen Arbeit­er­re­volte. Er reiste daraufhin nach Deutsch­land, wurde Redak­teur der Leipziger Volk­szeitung und kam so in per­sön­lichen Kon­takt mit führen­den Sozialdemokrat­en wie August Bebel, Karl Kaut­sky, Karl Radek, Rosa Lux­em­burg und Otto Bauer. Im Reich kon­nte er sein Studi­um abschließen und pro­movierte zum Dr. phil., gle­ichzeit­ig grün­dete er 1907 mit Karl Liebknecht und Lud­wig Frank die Sozial­is­tis­chen Jugend-Inter­na­tionale, deren erster Sekretär er wurde.

Während eines Semes­ters an der Uni­ver­sität Wien geri­et der Flame de Man in den Bann des Aus­tro­marx­is­mus, der den Sozial­is­mus mit der Lösung der Nation­al­itäten­frage verknüpfen wollte. Dann zog er für ein Jahr nach Eng­land (1910), fasziniert von der englis­chen Arbeit­er­be­we­gung, die den Marx­is­mus ablehnte. Zurück in Bel­gien beauf­tragten die Sozial­is­ten ihn mit der Leitung der Zen­trale für Arbeit­er­erziehung. Als 1914 der franzö­sis­che Sozial­is­ten­führer und Paz­i­fist Jean Jau­rès ermordet wurde, reiste De Man mit dem SPD-Vor­sitzen­den Her­mann Müller nach Paris, um sich der – verge­blichen — Frieden­sof­fen­sive der Sozial­is­ten aller Län­der anzuschließen.

In seine Heimat zurück­gekehrt, meldete De Man sich als Frei­williger zur bel­gis­chen Armee. Spar­tanisch erzo­gen, paßte er sich rasch dem Frontleben an und wurde Offizier. In sein­er Freizeit unter­richtete er anal­pha­betis­che Sol­dat­en. Der Krieg an sich war ihm tief zuwider. Im Auf­trag der Regierung begab er sich 1917 mit dem sozial­is­tis­chen Staatsmin­is­ter Van­dervelde nach Rus­s­land, weil man einen deutsch-rus­sis­chen Sep­a­rat­frieden fürchtete. Während der Reise begeg­nete er Trotz­ki, Lenin und Thomas Masaryk.

Während des Krieges hat­te sich De Man endgültig vom Marx­is­mus gelöst, erkan­nte aber auch die Sack­gasse, in die der Reformis­mus führte. Er schlug den Sozial­is­ten jet­zt einen „Kul­tur­sozial­is­mus“ vor, einen „drit­ten Weg“ insofern, als Kul­tur nicht mehr als „Über­bau“ begrif­f­en wurde wie bei Marx, nicht mehr als metapoli­tis­che Vorstufe der Macht wie bei Gram­sci, son­dern als Ziel der sozialen Emanzi­pa­tion und als „Kampf um die Seele“. 1926 veröf­fentlichte De Man dann bei Eugen Diederichs sein Hauptwerk Zur Psy­cholo­gie des Sozial­is­mus, in dem er zum ersten Mal den Kul­tur­sozial­is­mus als Ziel und den „Planis­mus“ als Meth­ode sys­tem­a­tisch darstellte. Über­set­zt in 26 Sprachen, fand das Buch weltweit Wider­hall.

De Man ver­warf jet­zt die mech­a­nis­tis­che Geschicht­sauf­fas­sung des his­torischen Mate­ri­al­is­mus, da „die let­zte Instanz eine vol­un­taris­tis­che Instanz“ ist, der Wille ist grundle­gend. Infolge sein­er klaren Absage an den Klassenkampf, for­mulierte er seinen neuen Sozial­is­mus als ethisch-kul­turelle Auf­gabe, nicht ein­er Klasse, son­dern aller Völk­er. Eigenini­tia­tive und Konkur­renz wollte er in seine Gesellschaftsvi­sion inte­gri­eren, er set­zte auf „die autonome Organ­i­sa­tion der Beruf­s­in­ter­essen, d. h. den Kor­po­ratismus, statt auf zen­tral­isierten bürokratis­chen Zwang, d. h. Etatismus“. Später (1934) forderte er alle Sozial­is­ten aus­drück­lich auf, den Kor­po­ratismus nicht den Reak­tionären zu über­lassen.

1929 wurde De Man Lehrbeauf­tragter für Sozialpsy­cholo­gie an der Uni­ver­sität Frank­furt. Er ver­suchte sich außer­dem auf kul­tureller Ebene mit dem Fest­spiel Wir!: Sprechchöre kom­binierte er hier auf avant­gardis­tis­che Weise mit Film­frag­menten, Orch­ester und Gesang. Die Urauf­führung in Frank­furt, am 1.Mai 1932, mit 2.000 Mitwirk­enden und 18.000 Zuschauern, wurde ein großer Erfolg. Allerd­ings arbeit­ete die poli­tis­che Entwick­lung im Reich gegen ihn und seine Vorstel­lun­gen. Anfang 1933 wur­den die Büch­er De Mans in Frank­furt öffentlich ver­bran­nt. Trotz­dem lud man ihn im Mai 1933 ein, seine Lehrtätigkeit weit­erzuführen, was er ablehnte, „bis es in Deutsch­land wieder unbeschränk­te Lehrfrei­heit gibt“. Er kehrte nach Brüs­sel zurück und lehrte jet­zt Sozialpsy­cholo­gie an der Uni­ver­sité Libre de Brüs­sel.

Zur Bekämp­fung der Weltwirtschaft­skrise entwick­elte De Man damals seinen Plan der Arbeit, der die Arbeit­slosigkeit beseit­i­gen, das „vagabundierende und kos­mopoli­tis­che Kap­i­tal“ eindäm­men und die Wirtschaft ins­ge­samt umstruk­turi­eren sollte. Diese nationale Zielset­zung wollte er nicht nur von den Arbeit­ern getra­gen sehen, son­dern auch von den Bauern, dem Mit­tel­stand und den kleinen Unternehmern. Damit war er nicht weit ent­fer­nt von dem, was in Deutsch­land der linke Flügel der „kon­ser­v­a­tiv­en Rev­o­lu­tion“ und früher schon Walther Rathenau angestrebt hat­ten. Franzö­sis­che Anhänger „planis­tis­ch­er“ Ideen sprachen von ein­er „kon­struk­tiv­en Rev­o­lu­tion“.

De Mans Plan diente in vie­len Län­dern den Sozialdemokrat­en als Vor­bild. Auf dem Wei­h­nacht­skon­greß 1933 der bel­gis­chen Sozial­is­ten wurde das Konzept mit Begeis­terung aufgenom­men, zum Entset­zen der Parteileitung. Trotz mas­siv­er Wider­stände in der eige­nen Partei trat De Man 1935 der Regierung bei und wurde 1939 stel­lvertre­tender Min­is­ter­präsi­dent.

Nach De Man sollte der Sozial­is­mus „die grundle­gende Bedeu­tung der nationalen Tat­sache“ anerken­nen, sich erneuern „in Übere­in­stim­mung mit den eige­nen Wesen­szü­gen des flämis­chen Volkes“,  und das „mit Bel­gien, wenn es geht, ohne Bel­gien, wenn es muß“. Diese Syn­these von nationaler und sozialer Emanzi­pa­tion wurde von der Parteispitze ver­wor­fen. Trotz­dem organ­isierte De Man 1937 einen „Flämis­chen Sozial­is­tis­chen Kon­greß“ und plädierte für Zusam­me­nar­beit mit den flämis­chen Unternehmern „weil wir lieber mit unseren eige­nen Leuten zu tun haben“.

1938 beauf­tragte der König De Man mit ein­er geheimen Friedens­mis­sion, um Bel­gien aus dem dro­hen­den Krieg her­auszuhal­ten. Nach dem Tode des sozial­is­tis­chen Parteiführers Emile Van­dervelde, einem franko­pho­nen Marx­is­ten, wurde er 1939 zum Vor­sitzen­den gewählt. Allerd­ings isolierte sich De Man durch seine strik­te Neu­tral­ität­spoli­tik. Als der Krieg begann und Bel­gien beset­zt wurde, weigerte sich der König, der Regierung ins Exil zu fol­gen. De Man war der einzige Poli­tik­er, der 1940 an sein­er Seite blieb. Ungewöhn­lich war allerd­ings, daß er die Kapit­u­la­tion in einem Man­i­fest aus­drück­lich als „Unter­gang ein­er morschen Welt“ begrüßte, als „Nieder­lage des par­la­men­tarischen Regimes und der kap­i­tal­is­tis­chen Plu­tokratie“, denen die Werk­täti­gen „nicht nach­trauern sollen“, son­dern die neuen Ver­hält­nisse „als Befreiung empfind­en“.

De Man löste die sozial­is­tis­che Partei auf, aber auf die Grün­dung sein­er neuen poli­tis­chen Bewe­gung, den „Nationale Bond Vlaan­deren“, reagierten die deutsche Behör­den mit einem Rede­ver­bot. Als er 1941 auch noch als Hochschullehrer ent­lassen wurde, zog De Man sich in eine Hütte in der Haute-Savoie (Frankre­ich) zurück. Vorher war es im beset­zten Paris noch zu ein­er Begeg­nung mit dem von ihm sehr bewun­derten Ernst Jünger gekom­men. De Mans Buch Réflex­ions sur la Paix (1942), wurde sofort beschlagnahmt.

Im August 1944 erhielt De Man poli­tis­ches Asyl in der Schweiz. Er schrieb in der Fol­gezeit noch das Buch Ver­mas­sung und Kul­turver­fall: Eine Diag­nose unser­er Zeit, angelehnt an die zivil­i­sa­tion­spes­simistis­chen Diag­nosen Spen­glers und Orte­ga y Gas­sets. In Bel­gien wurde er 1946 in Abwe­sen­heit zu 20 Jahren Haft verurteilt, sein Ver­mö­gen beschlagnahmt. Am 20. Juni 1953 starb De Man mit sein­er Frau, als ihr Wagen auf einem Bah­nüber­gang bei dem schweiz­erischen Ort Greng von einem Zug erfaßt wurde.

– — –

Zitat:

Kul­tur ist also auch in dem über­tra­ge­nen Sinne, in dem wir das Wort heutzu­tage benutzen, nichts anderes als das, was es schon ursprünglich bedeutete: Bebau­ung, Pflege, Vere­delung, Sin­nge­bung, For­mung. Nur hat sich der ursprüngliche Sinn der Bodengestal­tung zu dem der Lebens­gestal­tung erweit­ert.

– — –

Schriften:

  • Die Intellek­tuellen und der Sozial­is­mus, Jena 1926
  • Der Sozial­is­mus als Kul­turbe­we­gung, Berlin 1926
  • Zur Psy­cholo­gie des Sozial­is­mus, Jena 1927
  • Der Kampf um die Arbeits­freude, Jena 1927
  • Sozial­is­mus und Nation­al-Fas­cis­mus, Pots­dam 1931
  • Der neu ent­deck­te Marx, 1932
  • Massen und Führer, Pots­dam 1932
  • Die sozial­is­tis­che Idee, Jena 1933
  • Pour un plan d’ac­tion, Paris 1934
  • Le Plan du tra­vail, Brüs­sel 1934
  • Cor­po­ratisme et social­isme, Brüs­sel 1935
  • Ver­mas­sung und Kul­turver­fall: Eine Diag­nose unser­er Zeit, Bern 1951
  • Gegen den Strom. Mem­oiren eines europäis­chen Sozial­is­ten, Stuttgart 1953

– — –

Lit­er­atur:

  • Michel Brélaz: Hen­ri de Man. Une autre idée du social­isme, Genf 1985
  • Ker­sten Oschmann: Über Hen­drik de Man: Marx­is­mus, Plan­sozial­is­mus und Kol­lab­o­ra­tion. Ein Gren­zgänger der Zwis­chenkriegszeit, o. O. 1987