Marxismus und Industrielle Revolution — Ernst Nolte, 1983

Es war stets Ernst Noltes Überzeu­gung, daß der Faschis­mus nicht ohne das ältere Phänomen des Marx­is­mus ver­standen wer­den kann. Als Erwiderung auf Max Horkheimers Dik­tum: »Wer aber vom Kap­i­tal­is­mus nicht reden will, sollte auch vom Faschis­mus schweigen«, pos­tulierte Nolte, »daß vom Faschis­mus schweigen soll, wer nicht vom Marx­is­mus reden will«. Entsprechend durchzieht die Auseinan­der­set­zung mit Marx das gesamte Lebenswerk des großen Faschis­mus­forsch­ers.

Bere­its Noltes Dis­ser­ta­tion behan­delte das Prob­lem der »Selb­stent­frem­dung und Dialek­tik im Deutschen Ide­al­is­mus und bei Marx«. Als pro­gram­ma­tis­ches Werk aber ragt Marx­is­mus und Indus­trielle Rev­o­lu­tion her­aus, in dessen ambi­tion­iert­er Prob­lem­stel­lung nicht zulet­zt Noltes Respekt vor dem his­torischen Recht und der geisti­gen Größe des Marx­is­mus zum Aus­druck kommt.

Nolte arbeit­et die bis zur Selb­st­wider­sprüch­lichkeit reichende Vielschichtigkeit des marx­is­tis­chen Denkens her­aus, die im Zuge von dessen lenin­is­tis­ch­er Dog­ma­tisierung eingeeb­net wor­den war. So blieb das an die Engelss­che Kat­e­chisierung der Marxschen Lehre anknüpfende Dog­ma Lenins, diese stelle eine Syn­these aus deutsch­er Philoso­phie, franzö­sis­chem Sozial­is­mus und englis­ch­er Nation­alökonomie dar, nicht nur für die ide­ol­o­gis­che Selb­stauf­fas­sung des Marx­is­mus, son­dern auch für dessen his­torische Erforschung bes­tim­mend.

Nolte hinge­gen weist Lenins Fix­ierung von »drei Quellen und drei Bestandteilen des Marx­is­mus« als sim­pli­fizierend zurück und trägt die architek­tonis­chen Schicht­en des marx­is­tis­chen Lehrge­bäudes behut­sam ab, um es von seinen ver­drängten Stre­bun­gen und ver­bor­ge­nen Fun­da­menten her neu zu erschließen.

In solch­er Anatomie des Marx­is­mus ist ein Erken­nt­nis­in­ter­esse am Werk, das Nolte selb­st auf die beken­nt­nishafte Formel brachte: »Die uner­schlosse­nen Fra­gen im Werk von Marx sind inter­es­san­ter als die all­bekan­nten Irrtümer.« Zu diesen Fra­gen zählen ins­beson­dere »die kon­ser­v­a­tiv­en Züge des Marx­is­mus«, die in der Forschung noch immer kaum Beach­tung find­en, obgle­ich sie dem Marx­is­mus seinen kom­plex­en Charak­ter ver­lei­hen, der ihn von den übri­gen, zumeist triv­ialen Sozial­is­men unter­schei­det. Nach dieser Maß­gabe stuft Nolte die franzö­sis­che Tra­di­tion­slin­ie des »utopis­chen Sozial­is­mus« in ihrer Bedeu­tung herab und bringt der von einem »reak­tionären Antikap­i­tal­is­mus« geprägten englis­chen Lin­ie eine umso höhere Wertschätzung ent­ge­gen, zumal es ger­ade die englis­chen Ver­hält­nisse waren, die Marx und Engels als exem­plar­isches Mod­ell des Indus­triekap­i­tal­is­mus vor Augen standen.

Noltes Werk basiert indessen auf ein­er umfassenden Recherche aller Voraus­set­zun­gen und Vor­läufer des Marx­is­mus. Deren Ergeb­nisse rauben diesem einen Teil sein­er Orig­i­nal­ität, denn nahezu alle charak­ter­is­tis­chsten Topoi, The­o­reme und The­sen von Marx waren schon zuvor etabliert: Die Aufhe­bung der Aus­beu­tung durch Abschaf­fung der Arbeit­steilung hat­ten bere­its die Saint-Simonis­ten gefordert; die Utopie ein­er staat­en- und klassen­losen Gesellschaft schwebte schon Thomas Paine und Eti­enne Cabet vor; und The­o­rien von Mehrw­ert und Klassenkampf waren bere­its von Fran­cois Babeuf, Robert Owen und James »Bron­terre« O’€™Brien entwick­elt wor­den.

Gle­ich­wohl stellt Nolte den Marx­is­mus nicht als ein rein eklek­tis­ches Denksys­tem dar. Dank der for­mgeben­den Tra­di­tion der deutschen Philoso­phie ist sein Ganzes weit mehr als die inhaltliche Summe sein­er Teile, und dieser gle­ich­sam marx­is­tis­che Mehrw­ert beste­ht in der Bil­dung ein­er philosophis­chen Syn­these der vorge­fun­de­nen Bestandteile.

Vor allem suchte Marx die ambiva­lente Erfahrung der mod­er­nen Geschichte als Fortschritt und Dekadenz in die his­torische Dialek­tik von Selb­stent­frem­dung und Wieder­aneig­nung einzus­pan­nen. Nolte zufolge ist Marx in seinem zum Scheit­ern verurteil­ten Ver­such, die dialek­tis­che Meth­ode vom ide­al­is­tis­chen Kopf auf mate­ri­al­is­tis­che Füße zu stellen, jedoch hin­ter Hegels objek­tiv­en Ide­al­is­mus in einen bloß sub­jek­tiv­en Ide­al­is­mus Ficht­esch­er Prä­gung zurück­ge­fall­en, zumal auch sein rev­o­lu­tionär­er Vol­un­taris­mus den fun­da­men­tal­en Wider­spruch zwis­chen zwei gegen­stre­bi­gen Ten­den­zen sein­er Lehre nicht aufzuheben ver­mochte: Ein­er­seits präsen­tiert sich die Marxsche Rev­o­lu­tion­slehre als eine radikal mod­erne Gestalt prozivil­isatorischen Fortschritts­denkens, die sich von der indus­triellen Rev­o­lu­tion getra­gen weiß.

Ander­er­seits mobil­isiert Marx’€™ Ent­frem­dungskri­tik den antizivil­isatorischen Dekaden­zgedanken, um die antikap­i­tal­is­tis­chen Reak­tio­nen auf die trau­ma­tis­chen Mod­ernisierungs­fol­gen der Entwurzelung und Vere­len­dung ein­er radikal reak­tionären Sozial­re­li­gion dien­st­bar zu machen, deren the­ol­o­gis­che Aufrüs­tung zu einem pro­le­tarischen Mes­sian­is­mus sich aus der prophetis­chen Tra­di­tion des alten Juden­tums speist.

Kon­ser­v­a­tive Reak­tion auf die pro­gres­sive indus­trielle »Fun­da­men­tal­rev­o­lu­tion«. Dabei unter­schei­det er kat­e­go­r­i­al zwis­chen dem »real­sozi­ol­o­gis­chen« Trau­ma der Indus­tri­al­isierung und dessen marx­is­tis­ch­er Bewäl­ti­gung durch eine »ide­al­sozi­ol­o­gis­che« The­o­rie des Kap­i­tal­is­mus, welche die konkrete Erfahrung der indus­triellen Umwälzun­gen in ein allzu abstrak­tes Schema gezwängt hat. Ähn­lich ver­hält es sich mit der Marxschen Rev­o­lu­tion­sid­ee, der keine rev­o­lu­tionären Real­itäten jemals entsprochen haben. Durch den franzö­sis­chen »Bona­partismus«, bei dem die Reak­tion das Pro­gramm der Rev­o­lu­tion zu exeku­tieren schien, wurde Marx selb­st auf das para­doxe Phänomen ein­er »kon­ser­v­a­tiv­en Rev­o­lu­tion« gestoßen.

Unter Ver­weis auf den Wortsinn von »Re-volu­tio« legt Nolte schlüs­sig dar, daß noch alle neuzeitlichen Rev­o­lu­tio­nen eine solche »Rück-wen­dung« vol­l­zo­gen, indem sie sich immer auch an der Wieder­her­stel­lung ein­er besseren ver­gan­genen Ord­nung aus­richteten. Marx sprach mit Blick auf Ruß­land von der »Geburt des Sozial­is­mus aus dem Geist der Dor­fge­meinde«, nicht ohne damit bere­its den rus­sis­chen Son­der­weg zu antizip­ieren, und beze­ich­nen­der­weise soll­ten sowohl Lenin wie Stal­in von unortho­dox­en Marx­is­ten des Bona­partismus bezichtigt wer­den. Die Marxsche Analyse weist indessen nicht nur auf den Sow­jetkom­mu­nis­mus, son­dern auch auf den Faschis­mus voraus, den schon der dis­si­dente Kom­mu­nist August Thal­heimer als eine Erschei­n­ungs­form des Bona­partismus inter­pretiert hat­te.

Auf diesem Wege gelangt Nolte schließlich zur Erken­nt­nis ein­er befremdlichen Wesensver­wandtschaft zwis­chen der marx­is­tis­chen Rev­o­lu­tion und der faschis­tis­chen Gegen­rev­o­lu­tion, denn bei­de stell­ten als »irreg­uläre Rev­o­lu­tio­nen« ambiva­lente Reak­tio­nen auf die ver­störende Fun­da­men­tal­rev­o­lu­tion der ent­fes­sel­ten Indus­tri­al­isierung dar, welche die gesellschaftliche Mod­erne ins­ge­samt als ein Zeital­ter der Angst erscheinen läßt.

Marx­is­mus und Indus­trielle Rev­o­lu­tion wird von Nolte selb­st zurecht als sein gelehrtestes Werk ange­se­hen. Aber ger­ade die his­torische Kom­plex­ität und der philosophis­che Hor­i­zont der umfan­gre­ichen Studie haben ihrer wis­senschaftlichen wie geschicht­spoli­tis­chen Rezep­tion enge Gren­zen geset­zt. So stellt dieses gelehrteste zugle­ich das am wenig­sten gele­sene Buch Noltes dar.

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Zitat:

Noch im his­torischen Unrecht ihrer utopis­chen Illu­sion hat­te die marx­is­tisch-kom­mu­nis­tis­che Bewe­gung Größe, und wer ihr ganz fremd blieb, hat sich bis heute eher Vor­würfe zu machen als der­jenige, der sich dafür engagierte.

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Lit­er­atur:

  • Siegfried Ger­lich: Ernst Nolte. Por­trait eines Geschichts­denkers, Schnell­ro­da 2009
  • Volk­er Kro­nen­berg: Ernst Nolte und das total­itäre Zeital­ter. Ver­such ein­er Ver­ständi­gung, Bonn 1999