Oakeshott, Michael — Philosoph, 1901–1990

Michael Oakeshott, geboren am 11. Dezem­ber 1901 in Chels­field, gehört zu den bedeu­tend­sten poli­tis­chen The­o­retik­ern des 20. Jahrhun­derts. Er wird oft im Zusam­men­hang mit der Wiederge­burt der poli­tis­chen Philoso­phie in der Mitte des 20. Jahrhun­derts als ein­er ihrer Pro­tag­o­nis­ten genan­nt. Seine inten­sive Auseinan­der­set­zung mit Thomas Hobbes gehört hier­her, die sich in ein­er wirkungsmächti­gen Aus­gabe des Leviathan und ver­schiede­nen Stu­di­en Hobbes on Civ­il Asso­ci­a­tion (1975) nieder­schlug. Oakeshott läßt sich indes nur unter erhe­blichem Kom­plex­itätsver­lust in irgen­deine „Ten­denz“ einord­nen, war er doch ein Denker sui gener­is.

Nach Lehrtätigkeit­en in Cam­bridge und Oxford, unter­brochen durch die Krieg­steil­nahme als Artillerist, hat­te Oakeshott in den 1950er und 1960er Jahren den Lehrstuhl für Poli­tik­wis­senschaft an der Lon­don School of Eco­nom­ics inne. Seine berühmte Antrittsvor­lesung von 1951 unter dem Titel „Polit­i­cal Edu­ca­tion“ war der Sache nach eine klare Absage an den sozial­is­tis­chen Zeit­geist und die bei allen Parteien zu beobach­t­en­den Ten­den­zen zu größerem Staatsin­ter­ven­tion­is­mus.

Schon in seinem frühen Hauptwerk Expe­ri­ence and Its Modes (1933) ver­suchte Oakeshott eine radikale Philoso­phiekonzep­tion zu entwick­eln, die sowohl der the­o­retis­chen wie der prak­tis­chen Ver­nun­ft ihren angemesse­nen Ort gab. Oakeshott stand zu dieser Zeit noch stärk­er unter dem Ein­fluß des Hegelian­is­chen Ide­al­is­mus. Auch in sein­er späteren poli­tis­chen Philoso­phie sollte jedoch die starke Beschäf­ti­gung mit Hegel, hier vor allem sein­er Recht­sphiloso­phie, spür­bar bleiben.

In seinem mag­num opus On Human Con­duct von 1975 ent­fal­tete Oakeshott in dichter und ein­dringlich­er Form Grundzüge ein­er The­o­rie des men­schlichen Han­delns, die sich von einem Pla­tonis­chen Grund­ver­ständ­nis abhob. Für Oakeshott ste­ht nicht die Suche nach ein­er men­schlichen Natur im Vorder­grund, son­dern das konkrete Tun von Men­schen in ein­er Sit­u­a­tion. Die Beto­nung des Konkreten ist dabei durchgängig charak­ter­is­tisch für Oakeshotts Men­schen­bild und poli­tis­che Philoso­phie. Indem er den Wert der „The­o­rie“ für das men­schliche Zusam­men­leben in Zweifel zog und im Pla­tonis­chen Anspruch über­lege­nen (Experten-)Wissens eine Gefahr für die frei­heitliche und selb­st­bes­timmte Organ­i­sa­tion des bürg­er­lichen Lebens erkan­nte, nimmt er eine skep­tis­che Tra­di­tion auf, die für ihn mit Namen wie Mon­taigne und Hume ver­bun­den war.

Er wid­mete sich der für ihn zen­tralen poli­tis­chen Dimen­sion der europäis­chen Tra­di­tion. Diese erblick­te er in der genauen Unter­schei­dung zwis­chen zwei Ide­al­typen men­schlich­er Assozi­a­tion oder Gesel­lung – dem Zweck­ver­band (uni­ver­si­tas) und dem bürg­er­lichen Zusam­men­schluß (soci­etas). Diese ste­hen Oakeshott zufolge in ein­er unau­flös­lichen Span­nung; ihr Ver­hält­nis zueinan­der muß immer wieder neu aus­tari­ert wer­den. Doch ist auch klar, daß Oakeshott selb­st dafür plädierte, die Zweck­ver­bandsin­ter­pre­ta­tion des Poli­tis­chen möglichst weit zurück­zu­drän­gen. Oakeshotts tief­gründi­ges Frei­heitsver­ständ­nis hängt aufs eng­ste mit diesem Deu­tungsansatz der europäis­chen Geschichte zusam­men. Seit der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion sei Europa von ein­er „Poli­tik des Glaubens“ (pol­i­tics of faith) geprägt, worunter Oakeshott vor allem den Glauben an die Mach­barkeit des Glücks ver­ste­ht, die Idee von der Ver­vol­lkomm­nung des Men­schen durch Regierung­shan­deln. Gegen diese Aus­druck­for­men eines poli­tis­chen Pela­gian­is­mus suchte Oakeshott den Pol der Skep­sis zu stärken, der darauf drängte, das Ver­hal­ten der Men­schen lediglich bes­timmten for­malen Regeln zu unter­w­er­fen, ohne inhaltliche Vor­gaben für ihre Glück­vorstel­lun­gen zu entwer­fen. Oakeshotts Weigerung, eine Flucht vor der Kom­plex­ität zu legit­imieren, ließ ihn erken­nen, daß zwis­chen den bei­den Poli­tik­stilen des Glaubens bzw. der Zuver­sicht und der Skep­sis eine unau­flös­bare Span­nung beste­ht, die Raum für die nicht im Vorhinein bes­timm­bare konkrete Poli­tik gibt. Von großer Bedeu­tung ist Oakeshotts Recht­sphiloso­phie; seine Begrün­dung der „Herrschaft des Rechts“ (rule of law) gehört zu den sub­til­sten Beiträ­gen zur poli­tis­chen Philoso­phie des 20. Jahrhun­derts.

Zwis­chen den bei­den Hauptwerken Oakeshotts liegen frucht­bare Jahre des akademis­chen Unter­richts vor allem in Cam­bridge und an der Lon­don School of Eco­nom­ics. Oakeshott erwarb sich Ver­di­en­ste als Hobbes-Her­aus­ge­ber und ‑Inter­pret, kri­tisierte wort­mächtig den Ratio­nal­is­mus in der Poli­tik und den Ein­fluß von Ide­olo­gien auf das poli­tis­che Denken und gelangte zu ein­er über seine eigene Zeit hin­aus aktuell bleiben­den Konzep­tion von Bil­dung, die sich ruhig, aber entsch­ieden gegen jede Ver­nutzung von Bil­dung zu bloßen „prak­tis­chen“ Zweck­en aussprach. Oakeshotts scharf­sin­nige Bil­dungskonzep­tion bietet einen Maßstab für die Bew­er­tung, der aus den Tiefen der europäis­chen Tra­di­tion kommt und daher im präzisen Sinne „unzeit­gemäß“ ist.

Bis heute fand eine Rezep­tion Oakeshotts in Deutsch­land eher spo­radisch statt; die Über­set­zung sein­er bei­den Hauptwerke ins Deutsche läßt noch auf sich warten.

Michael Oakeshott ver­starb am 18./19. Dezem­ber 1990 in Acton.

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Zitat:

Der kon­ser­v­a­tive Men­sch erachtet es für richtig, den Anlaß jed­er Neuerung zu prüfen. Kurzum, er sieht die Poli­tik als eine Tätigkeit an, bei der ein wertvoller Bestand an Werkzeu­gen von Zeit zu Zeit zu über­holen und in gutem Zus­tand zu hal­ten ist; sie ist kein Anlaß, die alten Werkzeuge durch völ­lig neue zu erset­zen.

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Schriften:

  • Ear­ly Polit­i­cal Writ­ings 1925–1930, Exeter 2010
  • „Die Massen in der repräsen­ta­tiv­en Demokratie“, in: Masse und Demokratie, hrsg. von Albert Hunold, Erlen­bach-Zürich 1957
  • Ratio­nal­is­mus in der Poli­tik, Neuwied 1966
  • Hobbes on Civ­il Asso­ci­a­tion, Oxford 1975
  • On His­to­ry and Oth­er Essays, Oxford 1983
  • On Human Con­duct, Oxford 1975
  • The Voice of Lib­er­al Learn­ing, New Haven u.a. 1989
  • Zuver­sicht und Skep­sis. Zwei Prinzip­i­en neuzeitlich­er Poli­tik, Berlin 2000

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Lit­er­atur:

  • Corey Abel (Hrsg.): The Mean­ings of Michael Oakeshott’s Con­ser­vatism, Exeter 2010
  • Paul Fran­co: Michael Oakeshott. An Intro­duc­tion, New Haven 2004
  • Robert Grant: Oakeshott, Lon­don 2000
  • Pit Kapetanovic: Intellek­tuelle Aben­teuer. Philoso­phie, Geschichte und Erziehung bei Michael Oakeshott, Ham­burg 2010
  • Till Kinzel: Michael Oakeshott. Philosoph der Poli­tik, Schnell­ro­da 2007