Opfer

Opfer ist ein Begriff, den man seinem Wesen nach der religiösen Sphäre zuord­nen muß. Das Opfer ist vor allem Gabe an den Gott als Aus­druck des Dankes für Schutz und Leben, eigentlich auch dafür, daß er seine Über­ma­cht nicht gegen den Opfer­n­den gebraucht. Das Opfer hat daneben auch eine soziale Dimen­sion, gemein­schaftliche Opfer­hand­lun­gen waren nicht nur Gottes­di­enst, son­dern dien­ten auch der Fes­ti­gung des Zusam­men­halts. Das Opfer bewirkt eine »Kraft« (Ger­ar­dus van der Leeuw), die auf den Gott wie die Gruppe wirkt. Die dabei ins Spiel kom­mende Gewalt war keineswegs neben­säch­lich, son­dern kon­sti­tu­tiv.

Obwohl sich der Opfergedanke in allen Reli­gio­nen find­et und obwohl es in den Hochre­li­gio­nen eine Ten­denz zur Sub­lim­ierung des Opfers gibt (vor allem weg von bluti­gen Tieropfern, hin zu Repräsen­ta­tio­nen, Pflanzen oder ein­er voll­ständi­gen Vergeis­ti­gung), bleibt doch eine prinzip­ielle Logik des Opfers, die besagt: Wenn du etwas Wertvolles erhal­ten willst, mußt du dafür etwas – Wertvolles – geben.

In diesem Sinn ist das Opfer nach wie vor Bedin­gung für den Bestand jed­er men­schlichen Sozial­form. Von der Ehe und der Fam­i­lie über Kirche und Armee bis zum Staat über­haupt geht es um die Bere­itschaft, Opfer zu brin­gen. Das ist beson­ders deut­lich im Kriegs­fall, wenn der Staat von seinen Bürg­ern das Opfer des eige­nen Lebens ver­langt, aber das gilt im Prinzip auch für die Fam­i­lie, in der zum Beispiel die Eltern Teile der Selb­stent­fal­tung opfern müssen, um die Aufzucht der Kinder zu ermöglichen, von denen im Gegen­zug erwartet wird, daß sie später eventuell die Pflege ihrer Eltern übernehmen, was wiederum nicht möglich ist ohne Ein­bußen an Geld und Zeit.

In den alten Kul­turen ist solche Opfer­bere­itschaft grund­sät­zlich als ethisch »gut« betra­chtet wor­den, während die Opfer­ver­weigerung als ethisch »böse« galt. Beze­ich­nend, daß im Deka­log das Gebot, die Eltern zu ehren das einzige war, das mit ein­er direk­ten Ver­heißung verknüpft wurde, noch beze­ich­nen­der, daß im Zen­trum des Chris­ten­tums die Lehre vom stel­lvertre­tenden Opfer des Gottes­sohnes ste­ht. Dage­gen hat die Mod­erne ver­sucht, im Namen des Indi­vidu­ums die Legit­im­ität des Opfers prinzip­iell in Frage zu stellen und die damit ein­herge­hende soziale Verpflich­tung aufzulösen: durch Abstrak­tion ein­er­seits – wenn ein Opfer ver­langt wird, dann für die Men­schheit, die Welt, die Zukun­ft –, durch Rekurs auf die rein materielle Exis­tenz ander­er­seits.

Als Per­ver­sion ist auch die geschicht­spoli­tisch motivierte Ver­schiebung von »Opfer brin­gen« zu »Opfer sein« zu betra­cht­en. Die nach dem Zweit­en Weltkrieg in Gang geset­zte »Opfer­konkur­renz«, bei der es darum ging, immer neue Opfer immer neuen Täter­grup­pen gegenüberzustellen, hat mit dem ursprünglichen Vorstel­lungszusam­men­hang nur noch Teile der Ter­mi­nolo­gie gemein­sam.

Über­haupt lassen sich viele Dekaden­z­er­schei­n­un­gen in der west­lichen Welt von der Verken­nung der Logik des Opfers ableit­en. Das wird oft genug in tra­di­tionalen Gesellschaften deut­lich­er gese­hen, für die die Vorstel­lung vom Opfer noch hin­re­ichend konkret geblieben ist und mit dem Gedanken verknüpft, daß es zur Erhal­tung des Leben­szusam­men­hangs des Verzichts bedarf.

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Zitate:

Man muß jedoch – unter Wahrung der Recht­gläu­bigkeit – zugeben, daß die Geschichte den Men­schen zu allen Zeit­en von der erschreck­enden Wahrheit durch­drun­gen zeigt, er lebe unter der Gewalt ein­er erzürn­ten Macht, und diese Macht könne nur durch Opfer ver­söh­nt wer­den.
Joseph de Maistre

Ist unsre Zeit gekom­men, so wollen wir rit­ter­lich ster­ben für unsre Brüder und unsr­er Ehre keine Schande machen.
Judas Makkabäus

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Lit­er­atur:

  • Roger Cail­lois: Der Men­sch und das Heilige, München 1988
  • Insti­tut für Staat­spoli­tik (Hrsg.): »Meine Ehre heißt Reue«. Der Schuld­stolz der Deutschen, Wis­senschaftliche Rei­he, Heft 11, Schnell­ro­da 2007
  • Ger­ar­dus van der Leeuw: Ein­führung in die Phänom­e­nolo­gie der Reli­gion [1925], zulet­zt Güter­sloh 1961
  • Joseph de Maistre: Über das Opfer [1821], zulet­zt (mit einem Essay von E. M. Cio­ran) Leipzig und Wien 1997
  • Botho Strauß: Der Auf­s­tand gegen die sekundäre Welt [1999], zulet­zt München 2007