Preußen — Christopher Clark, 2006

Ein großer Wurf ist dem aus­tralis­chen, in Cam­bridge lehren­den His­torik­er Christo­pher Clark mit sein­er Geschichte Preußens gelun­gen. Die Schilderung von Auf­stieg und Nieder­gang des preußis­chen Staates stellt den Autor in die Rei­he der erzäh­len­den His­torik­er vom Schlage Golo Manns und Thomas Nip­perdeys. Clark erre­icht das, indem er sich deut­lich fern­hält von der längst erledigten, aber immer noch in den Köpfen spuk­enden Son­der­wegs­these, aber auch von pro­preußis­ch­er »Lager­feuer­ro­man­tik«. Aus dieser dop­pel­ten Umk­lam­merung befre­it er Preußen, indem er ein durchgängiges und wohltuen­des »Pathos der Dis­tanz« (Friedrich Niet­zsche) gegenüber seinem Forschungs­ge­gen­stand bewahrt. Eine gewisse Sym­pa­thie allerd­ings für jenes pos­i­tive Preußen­bild, das lib­erale und kon­ser­v­a­tive His­torik­er in der Nachkriegszeit geze­ich­net haben, scheint auch bei Clark durch.

In ein­er sehr klu­gen, abwä­gen­den und bei jed­er Posi­tion das ratio­nale Moment suchen­den Art wider­spricht Clark auf höfliche Weise gängi­gen antipreußis­chen Klis­chees. So erscheint etwa der Angriff Friedrichs des Großen auf Schle­sien nicht als beispiel­los­er Akt ver­brecherisch­er Aggres­sion, son­dern als dur­chaus übliche Vorge­hensweise im Ver­gle­ich zu den anderen europäis­chen Mächt­en; über­haupt ist der vielbeschworene preußis­che Mil­i­taris­mus im gesam­teu­ropäis­chen Ver­gle­ich keineswegs sin­gulär. Die Kam­mer­di­ener­per­spek­tive (zum Beispiel bei der Frage der »sex­uellen Ori­en­tierung« Friedrichs des Großen) wird weit­ge­hend ver­mieden, und modis­che Gen­der­fra­gen wer­den von Clark wenn, dann nur dezent und sehr klug behan­delt, so etwa bei der nicht ins übliche Rol­len­bild passenden Frage der beson­deren Bedeu­tung, die die Frauen der preußis­chen Guts­be­sitzer gespielt haben. Bei aller Beto­nung der Ver­säum­nisse deutsch­er Poli­tik­er in den Jahren vor 1914 tendiert Clark auch dazu, den Ersten Weltkrieg als einen Kon­flikt zu inter­pretieren, der sich let­ztlich zwangsläu­fig aus der »deutschen Rev­o­lu­tion« (Ben­jamin Dis­raeli) von 1871 ergeben habe.

Das größte Kön­nen und zugle­ich die größte Sym­pa­thie beweist Clark allerd­ings da, wo er die spez­i­fisch preußis­che Aufk­lärung und ihr frucht­bares Zusam­menge­hen mit dem preußis­chen Staat schildert. Hier liegt für Clark auch das eigentlich Beson­dere an Preußen: eine bes­timmte Aus­prä­gung der Mod­erne, gekennze­ich­net durch mod­er­at aufgek­lärten Etatismus, vertreten durch die Philoso­phien Kants und Hegels und verkör­pert in der Gestalt Friedrichs des Großen. Von dieser mod­er­ne­tatis­tis­chen Tra­di­tion meint Clark sog­ar, daß sie in ihrer staatssozial­is­tis­chen Aus­prä­gung Ende des 19. Jahrhun­derts das Poten­tial gehabt habe, »die Mis­ere des Königshaus­es zu über­winden«. Let­ztlich sei dieses Preußen aber unterge­gan­gen durch eine dop­pelte Bedro­hung: durch den Par­tiku­lar­is­mus der Altkon­ser­v­a­tiv­en »von unten«, und durch den mod­er­nen Nation­al­is­mus »von oben«. Angesichts solch­er deut­lichen Akzente gegen das bis heute über­wiegend neg­a­tive Preußen­bild über­rascht es, daß das Buch in allen größeren deutschen Feuil­letons gefeiert und Clark 2010 mit dem Deutschen His­torik­er­preis aus­geze­ich­net wurde.

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Zitat:

Als aus­tralis­ch­er His­torik­er, der im Cam­bridge des 21. Jahrhun­derts arbeit­et, bin ich glück­licher­weise von der Verpflich­tung (oder Ver­suchung) befre­it, das his­torische Erbe Preußens zu bekla­gen oder zu feiern. Vielmehr stellt dieses Buch den Ver­such dar, die Kräfte zu ver­ste­hen, die Preußen geformt und zer­stört haben.

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Aus­gabe:

  • Taschen­buchaus­gabe, München: Pan­theon 2008