Sieferle, Rolf Peter, Historiker, 1949–2016

Siefer­le gehört zur Alter­sko­horte der »Achtund­sechziger«, dementsprechend waren seine frühen Veröf­fentlichun­gen – ins­beson­dere die bei Immanuel Geiss ange­fer­tigte Dis­ser­ta­tion über den Rev­o­lu­tions­be­griff bei Marx – von Denkge­wohn­heit­en der Linken geprägt. Daß diese ihm auf die Dauer nicht genügten, war aber bere­its zu erken­nen, als Siefer­le in den achtziger
Jahren begann, eine Rei­he von Büch­ern zu veröf­fentlichen, die sich mit der Geschichte des men­schlichen Naturver­hält­niss­es befaßten. Wer ver­mutete, daß da jemand der »grü­nen« Mode fol­gte, sah sich nach der Lek­türe rasch kor­rigiert.

Zwar ging es Siefer­le auch darum, die vergesse­nen Vor­läufer der mod­er­nen Ökolo­giebe­we­gung, die Maschi­nen­stürmer, Tier- und Heimatschützer (Fortschritts­feinde?, 1984), wieder sicht­bar zu machen. Wichtiger war ihm aber eine präzise Klärung der Art und Weise, in der der Men­sch seine Umwelt aufge­faßt hat, wie er seine eigene Fähigkeit zur Natur­erken­nt­nis, Naturbe­herrschung und Naturz­er­störung einzuschätzen lernte und welche zen­trale Bedeu­tung die wis­senschaftliche Inter­pre­ta­tion der Natur seit dem 18. Jahrhun­dert auch für das Selb­st­bild und Selb­stver­ständ­nis von Homo sapi­ens gewann (Die Krise der men­schlichen Natur, 1989).

Kon­nte man an dieser Stelle schon eine Kor­rek­tur früher­er Ansicht­en fest­stellen, galt das erst recht, als Siefer­le unter dem Ein­druck der Wende von 1989 ein Buch mit dem Titel Epochen­wech­sel (1994) veröf­fentlichte, dessen Argu­men­ta­tion in manch­er Hin­sicht an Oswald Spen­glers Jahre der Entschei­dung erin­nerte. Siefer­le entwick­elt hier die These, daß der Zusam­men­bruch des Kom­mu­nis­mus nicht auf Dauer zur glob­alen Durch­set­zung eines neolib­eralen Konzepts unter Dom­i­nanz des West­ens führen werde, son­dern daß ältere Kon­flik­tlin­ien wieder auf­brechen kön­nten, ergänzt um neuar­tige Auseinan­der­set­zun­gen wirtschaftlich­er, aber auch ide­ol­o­gis­ch­er bzw. religiös­er Natur.

Da Epochen­wech­sel im Ull­stein-Ver­lag unter der Ägide Zitel­manns erschienen war, wurde Siefer­le rasch mit der »Neuen Recht­en« in Verbindung gebracht, obwohl er immer Dis­tanz hielt und sich an den Auseinan­der­set­zun­gen der frühen neun­ziger Jahre nicht beteiligte. Daß der gegen ihn gerichtete Ver­dacht einen gewis­sen ratio­nalen Kern hat­te, wurde allerd­ings deut­lich an der fol­gen­den Veröf­fentlichung über fünf bedeu­tende Vertreter der Kon­ser­v­a­tiv­en Rev­o­lu­tion (1995), wobei der Akzent erkennbar auf den Vor­denkern eines »preußis­chen Sozial­is­mus« lag: Paul Lensch, Wern­er Som­bart, Oswald Spen­gler, Hans Frey­er und Ernst Jünger.

Siefer­les Behaup­tung, man habe es im Fall der KR nicht mit ein­er »Gegen­mod­erne«, son­dern mit ein­er »alter­na­tiv­en Mod­erne« zu tun, löste fast noch heftigere Reak­tio­nen aus als die Veröf­fentlichung des Epochen­wech­sels. Infolgedessen hat er sich in der Fol­gezeit wieder ganz auf die wis­senschaftliche Arbeit zurück­ge­zo­gen und vor allem im Rah­men der Bre­uninger-Stiftung
(Stuttgart) eine ambi­tion­ierte Schriften­rei­he zum »europäis­chen Son­der­weg« her­aus­gegeben, die ver­sucht, das, was Max Weber das »okzi­den­tale Syn­drom« nan­nte, durch einen beson­ders bre­it­en Ansatz zu klären.

So bedauer­lich man die Entschei­dung zum Rück­zug aus poli­tis­chen Grün­den find­en muß, erlaubte sie Siefer­le doch den Abschluß sein­er wis­senschaftlichen Lauf­bahn. Er hat­te sich bere­its 1984 in Neuer­er Geschichte habil­i­tiert und 1991 eine außer­plan­mäßige Pro­fes­sur für dieses Fach an der Uni­ver­sität Mannheim über­nom­men. Seit 2000 lehrt er an der Uni­ver­sität St. Gallen, aber erst seit 2005 als ordentlich­er Pro­fes­sor für All­ge­meine Geschichte.

Siefer­le nahm sich am 17. Sep­tem­ber 2016 in Hei­del­berg das Leben.

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Zitat:

Am Ende eines jahrtausendeal­ten Span­nungsver­hält­niss­es von Markt und Macht kön­nte … die völ­lige Absorp­tion der Macht durch den Markt ste­hen, die Her­aus­bil­dung eines post­poli­tis­chen Zus­tands, dessen Entwick­lung sich allen Zugriffsver­suchen seit­ens außer-ökonomis­ch­er Mächte entzieht. Allerd­ings gibt es dazu auch Gegen­ten­den­zen:  Noch immer find­en sich auch in den Indus­triege­sellschaften nicht-mark­t­för­mige ökonomis­che Struk­turen … Es kann daher mit guten Grün­den bezweifelt wer­den, ob sich eine voll­ständig mark­twirtschaftliche Gesellschaft je durch­set­zen wird … Son­der­lich human wäre eine solche Gesellschaft sicher­lich nicht; darüber hin­aus fragt es sich aber, ob sie in der Wirk­lichkeit (das heißt jen­seits ökonomis­ch­er Mod­elle) über­haupt funk­tion­stüchtig wäre.

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Schriften:

  • Fortschritts­feinde? Oppo­si­tion gegen Tech­nik und Indus­trie von der Roman­tik bis zur Gegen­wart, München 1984
  • Die Krise der men­schlichen Natur, Frank­furt a. M. 1989
  • Epochen­wech­sel. Die Deutschen an der Schwelle zum 21. Jahrhun­dert, Berlin 1994
  • Die kon­ser­v­a­tive Rev­o­lu­tion. Fünf biographis­che Skizzen, Frank­furt a. M. 1995
  • Das Ende der Fläche, Köln 2006
  • Karl Marx zur Ein­führung, Ham­burg 2007