Kirk, Russell, Historiker, 1918–1994

Rus­sell Kirk gehörte zu den wichtig­sten unab­hängi­gen Gelehrten unter den amerikanis­chen Kon­ser­v­a­tiv­en. Er war im Grunde ein alteu­ropäis­ch­er Kon­ser­v­a­tiv­er, der gegenüber der ver­bre­it­eten amerikanis­chen Ten­denz, das welt­geschichtlich Neue an den USA zu beto­nen, auf die engen Verbindun­gen Amerikas zur britis­chen und europäis­chen Kul­tur ver­wies.

Kirk kann mit einigem Recht als Vertreter eines an Edmund Burke ori­en­tierten Kon­ser­vatismus gel­ten. Dieser erhebt den Anspruch, eine Antwort auf den alten Vor­wurf des Lib­eralen John Stu­art Mills zu bieten, der Kon­ser­vatismus sei die Partei der Dum­men. Zu diesem Zweck machte sich Kirk an die Aufar­beitung vor allem der angel­säch­sis­chen Tra­di­tion des kon­ser­v­a­tiv­en Denkens und der Kul­turkri­tik von Burke bis George San­tayana und T. S. Eliot.

Davon legt sein bis heute wohl wichtig­stes Buch, das Grund­la­gen­werk The Con­ser­v­a­tive Mind (Lebendi­ges poli­tis­ches Erbe) von 1953 Zeug­nis ab. Kirk ent­fal­tete im Gefolge dieses Buch­es eine rege schrift­stel­lerische Tätigkeit und leis­tete auch viel für die Begrün­dung ein­er kon­ser­v­a­tiv­en Pub­lizis­tik, darunter die Grün­dung und Her­aus­gabe der Zeitschriften Mod­ern Age und Uni­ver­si­ty Book­man. Auch für die in der Nachkriegszeit neu geschaf­fene Nation­al Review schrieb Kirk über lange Jahre eine regelmäßige Kolumne.

Im Anschluß an Burke kri­tisierte Kirk die mod­erne Ten­denz, Gle­ich­heit als materielle oder sub­stantielle zu inter­pretieren, statt als Prinzip der Rechts­gle­ich­heit. Kirks Wieder­auf­nahme des Denkens von Burke war gegen die Vorstel­lun­gen von der Ver­vol­lkomm­nung des Men­schen gerichtet; gegen die Ver­ach­tung der Tra­di­tion stellte Kirk den Reich­tum der Über­liefer­un­gen. Neben Burke stellte er so die lange ignori­erte und in ihrer Bedeu­tung verkan­nte Tra­di­tion eines gen­uin amerikanis­chen Kon­ser­vatismus, etwa bei John Ran­dolph of Roanoake.

Kirks eigen­er Weg führte ihn vom Athe­is­mus zur Katholis­chen Kirche, der er seit 1964 ange­hörte. Gegenüber dem Mate­ri­al­is­mus und Nom­i­nal­is­mus der Mod­erne betonte Kirk die religiöse Ein­bindung des Men­schen in eine ihm vorgegebene Ord­nung. Rus­sell Kirks Form des Kon­ser­vatismus ist somit trotz sein­er Vertei­di­gung des freien Unternehmer­tums denkbar weit von jedem Neokon­ser­vatismus und Lib­er­tari­er­tum à la Lud­wig von Mis­es oder Friedrich von Hayek ent­fer­nt; daraus ergeben sich gle­ich­sam alteu­ropäis­che Vor­be­halte gegen eine vol­lkom­men unreg­ulierte Mark­twirtschaft. Denn sein­er Auf­fas­sung nach war ökonomis­ches Eigen­in­ter­esse allein in lächer­lich­er Weise unfähig, ein Wirtschaftssys­tem zusam­men­zuhal­ten oder Ord­nung zu gewährleis­ten. Gegen den Indi­vid­u­al­is­mus, der ihm antichristlich erschien und sozialen Atom­is­mus bedeute, set­zte Kirk seinen Kon­ser­vatismus, der die Gemein­schaft des Geistes betonte.

Die Bedro­hung der Gesellschaft erwachse nach Kirk im 20. Jahrhun­dert aber nicht so sehr aus ein­er Kon­for­mität der Sit­ten, son­dern aus der Zer­störung der Sit­ten. Gegen den Lib­er­al­is­mus John Stu­art Mills, der Kirk zufolge eine abstrak­te Idee von Frei­heit ver­focht, betonte er, daß die Frei­heit nicht dadurch bewahrt oder aus­geweit­et wer­den könne, indem man abstrakt an freie Diskus­sion, nette Vernün­ftigkeit und isolierte ein­fache Prinzip­i­en appel­liere.

Zu den zen­tralen Begrif­f­en, die Kirk von Burke über­nahm, gehörten die „moralis­che Ein­bil­dungskraft“ (moral imag­i­na­tion) und das „Vorurteil“ (prej­u­dice). Während let­zteres im  All­t­agsver­ständ­nis heute eine pejo­ra­tive Bedeu­tung hat, hat­te Burke im Vorurteil das hal­bin­tu­itive Wis­sen gese­hen, das den Men­schen die Lösung der Leben­sprob­leme ohne logis­che Spiegelfechterei ermöglicht. Kirks Nei­gun­gen waren im wesentlichen roman­tisch, wom­it sowohl die Schwächen wie Stärken seines Denkens ver­bun­den sind; der nos­tal­gis­che Zug sein­er Moder­nität­skri­tik ist unbe­stre­it­bar. Kirks Posi­tio­nen führten zu inten­siv­en Kon­tro­ver­sen vor allem mit dem lib­ertären Ex-Kom­mu­nis­ten und Nation­al Review-Her­aus­ge­ber Frank Mey­er, für den alle Werte allein die Frei­heit des Einzel­nen als Bezugspunkt hat­ten. Aber auch andere bedeu­tende kon­ser­v­a­tive The­o­retik­er wie der Poli­tologe Will­moore Kendall übten deut­liche Kri­tik an Kirks Kon­ser­vatismus-Ver­ständ­nis.

Kirk ver­faßte neben seinen im eigentlichen Sinne kon­ser­v­a­tiv­en Werken auch lit­er­arische Texte im Genre der Schauer­lit­er­atur; Kirks lit­er­arische Auto­bi­ogra­phie The Sword of Imag­i­na­tion ist im Streben nach Objek­tivierung – wie schon Cäsars Gal­lis­ch­er Krieg – in der drit­ten Per­son geschrieben und enthält zahlre­iche anschauliche Porträts und Vignetten, die wertvolle Hin­weise für die Erweiterung des kon­ser­v­a­tiv­en Lek­türekanons bieten: von Bernard Iddings Bell, Richard Weaver, Don­ald David­son, Flan­nery O’Con­nor, Wil­helm Röp­ke, Otto von Hab­s­burg, T. S. Eliot und Roy Camp­bell bis zu Wyn­d­ham Lewis.

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Zitat:

Der zivil­isierte Men­sch lebt durch die Autorität; ohne irgen­deinen Bezug auf Autorität ist tat­säch­lich keine Form ein­er wahrhaft men­schlichen Exis­tenz möglich.

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Schriften:

  • Lebendi­ges poli­tis­ches Erbe. Frei­heitlich­es Gedankengut von Burke bis San­tayana 1790 – 1958, Erlen­bach-Zürich/ Stuttgart 1959
  • America’s British Cul­ture, New Brunswick 1993
  • Edmund Burke. A Genius Recon­sid­ered, Wilm­ing­ton 1999
  • Eliot and His Age. T. S. Eliot’s Moral Imag­i­na­tion in the Twen­ti­eth Cen­tu­ry, Wilm­ing­ton 2008
  • Ene­mies of the Per­ma­nent Things. Obser­va­tions of Abnor­mi­ty in Lit­er­a­ture and Pol­i­tics, New Rochelle 1969
  • The Essen­tial Rus­sell Kirk. Select­ed Essays, hg. von George A. Panichas, Wilm­ing­ton 2007
  • The Pol­i­tics of Pru­dence, Wilm­ing­ton 2004
  • Redeem­ing the Time, Wilm­ing­ton 1996
  • (als Hrsg.) The Portable Con­ser­v­a­tive Read­er, New York 1982
  • The Roots of Amer­i­can Order, Wilm­ing­ton 2004
  • The Sword of Imag­i­na­tion. Mem­oirs of a Half-Cen­tu­ry of Lit­er­ary Con­flict, Grand Rapids 1995

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Lit­er­atur:

  • Charles C. Brown: Rus­sell Kirk. A Bib­li­og­ra­phy, Wilm­ing­ton 2011
  • W. Wes­ley McDon­ald: Rus­sell Kirk and the Age of Ide­ol­o­gy, Colum­bia 2004
  • Gorge H. Nash: The Con­ser­v­a­tive Intel­lec­tu­al Move­ment in Amer­i­ca Since 1945, Wilm­ing­ton 2006
  • John M. Paf­ford: Rus­sell Kirk, Lon­don 2010
  • James E. Per­son: Rus­sell Kirk. A Crit­i­cal Biog­ra­phy of a Con­ser­v­a­tive Mind, Lan­ham 1999
  • Ger­ald J. Rus­sel­lo: The Post­mod­ern Imag­i­na­tion of Rus­sell Kirk, Colum­bia 2007