Russell Kirk gehörte zu den wichtigsten unabhängigen Gelehrten unter den amerikanischen Konservativen. Er war im Grunde ein alteuropäischer Konservativer, der gegenüber der verbreiteten amerikanischen Tendenz, das weltgeschichtlich Neue an den USA zu betonen, auf die engen Verbindungen Amerikas zur britischen und europäischen Kultur verwies.
Kirk kann mit einigem Recht als Vertreter eines an Edmund Burke orientierten Konservatismus gelten. Dieser erhebt den Anspruch, eine Antwort auf den alten Vorwurf des Liberalen John Stuart Mills zu bieten, der Konservatismus sei die Partei der Dummen. Zu diesem Zweck machte sich Kirk an die Aufarbeitung vor allem der angelsächsischen Tradition des konservativen Denkens und der Kulturkritik von Burke bis George Santayana und T. S. Eliot.
Davon legt sein bis heute wohl wichtigstes Buch, das Grundlagenwerk The Conservative Mind (Lebendiges politisches Erbe) von 1953 Zeugnis ab. Kirk entfaltete im Gefolge dieses Buches eine rege schriftstellerische Tätigkeit und leistete auch viel für die Begründung einer konservativen Publizistik, darunter die Gründung und Herausgabe der Zeitschriften Modern Age und University Bookman. Auch für die in der Nachkriegszeit neu geschaffene National Review schrieb Kirk über lange Jahre eine regelmäßige Kolumne.
Im Anschluß an Burke kritisierte Kirk die moderne Tendenz, Gleichheit als materielle oder substantielle zu interpretieren, statt als Prinzip der Rechtsgleichheit. Kirks Wiederaufnahme des Denkens von Burke war gegen die Vorstellungen von der Vervollkommnung des Menschen gerichtet; gegen die Verachtung der Tradition stellte Kirk den Reichtum der Überlieferungen. Neben Burke stellte er so die lange ignorierte und in ihrer Bedeutung verkannte Tradition eines genuin amerikanischen Konservatismus, etwa bei John Randolph of Roanoake.
Kirks eigener Weg führte ihn vom Atheismus zur Katholischen Kirche, der er seit 1964 angehörte. Gegenüber dem Materialismus und Nominalismus der Moderne betonte Kirk die religiöse Einbindung des Menschen in eine ihm vorgegebene Ordnung. Russell Kirks Form des Konservatismus ist somit trotz seiner Verteidigung des freien Unternehmertums denkbar weit von jedem Neokonservatismus und Libertariertum à la Ludwig von Mises oder Friedrich von Hayek entfernt; daraus ergeben sich gleichsam alteuropäische Vorbehalte gegen eine vollkommen unregulierte Marktwirtschaft. Denn seiner Auffassung nach war ökonomisches Eigeninteresse allein in lächerlicher Weise unfähig, ein Wirtschaftssystem zusammenzuhalten oder Ordnung zu gewährleisten. Gegen den Individualismus, der ihm antichristlich erschien und sozialen Atomismus bedeute, setzte Kirk seinen Konservatismus, der die Gemeinschaft des Geistes betonte.
Die Bedrohung der Gesellschaft erwachse nach Kirk im 20. Jahrhundert aber nicht so sehr aus einer Konformität der Sitten, sondern aus der Zerstörung der Sitten. Gegen den Liberalismus John Stuart Mills, der Kirk zufolge eine abstrakte Idee von Freiheit verfocht, betonte er, daß die Freiheit nicht dadurch bewahrt oder ausgeweitet werden könne, indem man abstrakt an freie Diskussion, nette Vernünftigkeit und isolierte einfache Prinzipien appelliere.
Zu den zentralen Begriffen, die Kirk von Burke übernahm, gehörten die „moralische Einbildungskraft“ (moral imagination) und das „Vorurteil“ (prejudice). Während letzteres im Alltagsverständnis heute eine pejorative Bedeutung hat, hatte Burke im Vorurteil das halbintuitive Wissen gesehen, das den Menschen die Lösung der Lebensprobleme ohne logische Spiegelfechterei ermöglicht. Kirks Neigungen waren im wesentlichen romantisch, womit sowohl die Schwächen wie Stärken seines Denkens verbunden sind; der nostalgische Zug seiner Modernitätskritik ist unbestreitbar. Kirks Positionen führten zu intensiven Kontroversen vor allem mit dem libertären Ex-Kommunisten und National Review-Herausgeber Frank Meyer, für den alle Werte allein die Freiheit des Einzelnen als Bezugspunkt hatten. Aber auch andere bedeutende konservative Theoretiker wie der Politologe Willmoore Kendall übten deutliche Kritik an Kirks Konservatismus-Verständnis.
Kirk verfaßte neben seinen im eigentlichen Sinne konservativen Werken auch literarische Texte im Genre der Schauerliteratur; Kirks literarische Autobiographie The Sword of Imagination ist im Streben nach Objektivierung – wie schon Cäsars Gallischer Krieg – in der dritten Person geschrieben und enthält zahlreiche anschauliche Porträts und Vignetten, die wertvolle Hinweise für die Erweiterung des konservativen Lektürekanons bieten: von Bernard Iddings Bell, Richard Weaver, Donald Davidson, Flannery O’Connor, Wilhelm Röpke, Otto von Habsburg, T. S. Eliot und Roy Campbell bis zu Wyndham Lewis.
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Zitat:
Der zivilisierte Mensch lebt durch die Autorität; ohne irgendeinen Bezug auf Autorität ist tatsächlich keine Form einer wahrhaft menschlichen Existenz möglich.
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Schriften:
- Lebendiges politisches Erbe. Freiheitliches Gedankengut von Burke bis Santayana 1790 – 1958, Erlenbach-Zürich/ Stuttgart 1959
- America’s British Culture, New Brunswick 1993
- Edmund Burke. A Genius Reconsidered, Wilmington 1999
- Eliot and His Age. T. S. Eliot’s Moral Imagination in the Twentieth Century, Wilmington 2008
- Enemies of the Permanent Things. Observations of Abnormity in Literature and Politics, New Rochelle 1969
- The Essential Russell Kirk. Selected Essays, hg. von George A. Panichas, Wilmington 2007
- The Politics of Prudence, Wilmington 2004
- Redeeming the Time, Wilmington 1996
- (als Hrsg.) The Portable Conservative Reader, New York 1982
- The Roots of American Order, Wilmington 2004
- The Sword of Imagination. Memoirs of a Half-Century of Literary Conflict, Grand Rapids 1995
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Literatur:
- Charles C. Brown: Russell Kirk. A Bibliography, Wilmington 2011
- W. Wesley McDonald: Russell Kirk and the Age of Ideology, Columbia 2004
- Gorge H. Nash: The Conservative Intellectual Movement in America Since 1945, Wilmington 2006
- John M. Pafford: Russell Kirk, London 2010
- James E. Person: Russell Kirk. A Critical Biography of a Conservative Mind, Lanham 1999
- Gerald J. Russello: The Postmodern Imagination of Russell Kirk, Columbia 2007