Das Viergespann — Josef Pieper, 1964

Dem Begriff der Tugend haftet heute leicht eine etwas ver­staubte und welt­fremde Bedeu­tung an – zumal im Bere­ich der Sex­u­al­ität, auf den die Tugend oft verengt wurde. Tat­säch­lich aber geht es bei den vier Kar­dinal­tugen­den – Klugheit, Gerechtigkeit, Tapfer­keit und Maß – um fun­da­men­tale Bes­tim­mungen des Men­sch­seins, die bere­its bei den alten Griechen inten­siv erörtert wur­den.

Josef Pieper hat im 20. Jahrhun­dert den wohl überzeu­gend­sten und tief­gründig­sten Ver­such unter­nom­men, das Wesen der genan­nten Tugen­den zu bes­tim­men und ihren Wert in ein­er
Zeit frucht­bar zu machen, ja als notwendig zu erweisen, die sich wei­thin durch die Ablehnung der Vorstel­lung kennze­ich­nen läßt, es gebe etwas, das dem Men­schen als Men­schen zeitüber­greifend
zukommt. Der zeit­geschichtliche Kon­text der Entste­hung von Piepers Aus­führun­gen über die Kar­dinal­tugen­den, die zuerst in Einze­laus­gaben erschienen, ist wichtig.

So fand Piepers Art des Philoso­phierens – begrif­flich präzise, zupack­end auf die gegen­wär­tige Sit­u­a­tion bezo­gen und doch »unzeit­gemäß«, offen für die Wahrheit des christlichen Glaubens – vor allem in der Nachkriegszeit ein erstaunlich großes Pub­likum, was ihm freilich keine akademis­che Rep­u­ta­tion ein­trug. Pieper wählte für seine Schriften die lit­er­arische Form des Trak­tats, der, geschult an den Schriften Thomas von Aquins, in der Erörterung des Für und Wider allein an der Sache ori­en­tiert ist.

Tapfer­keit kann im tra­di­tionellen Ver­ständ­nis nicht los­gelöst von den anderen Kar­dinal­tugen­den ver­standen wer­den, weshalb Pieper deut­lich betont, daß es Tapfer­keit ohne Wahrhaftigkeit, ohne Gerechtigkeit und Zucht und Maß (im Kriege vor allem: Man­neszucht) nicht geben könne. Damit gren­zte sich Pieper deut­lich von der unmen­schlichen Kriegführung der total­itären Staat­en im Zweit­en Weltkrieg ab; Ernst Jünger schätzte Piepers Schrift über die Tapfer­keit (1934) mit gutem Grund. Die Klugheit gilt als »Gebärerin« und For­m­grund aller übri­gen Kar­dinal­tugen­den; so betont Pieper, daß auf dem »Vor­rang der Klugheit vor den übri­gen Tugen­den nicht mehr und nicht weniger beruht als das ganze Ord­nungs­ge­füge des christlich-abendländis­chen Men­schen­bildes über­haupt«.

Ethik bleibt so als Tugendlehre auf eine Anthro­polo­gie bezo­gen und wen­det sich gegen die post­mod­erne Ten­denz, die Exis­tenz ein­er men­schlichen Natur zu bezweifeln. Kon­ser­v­a­tiv ist Piepers Tugendlehre insofern, als sie die Idee des Maßes und der Selb­stzucht gegen die mod­erne Maßlosigkeit ins Feld führt, ohne sich the­o­retisch mit Kom­pro­mis­sen zufrieden­zugeben.

Die klas­sisch-christliche Tugendlehre mit ihrer Bejahung von Frei­heit und Ver­ant­wor­tung des einzel­nen Men­schen find­et in Pieper einen kon­ge­nialen Inter­pre­ten. Denn ein­er­seits ent­fal­tet er im Vierges­pann das über die Epochen­schwellen von Alter­tum, Mit­te­lal­ter und Neuzeit hin­aus gültige Men­schen­bild der Tugendlehre, ander­er­seits führt er den Leser immer auch an die Schwelle zu den über­natür­lichen Tugen­den her­an, denen Pieper eben­falls mono­graphis­che Stu­di­en gewid­met hat: Über den Glauben (1962), Über die Hoff­nung (1935), Über die Liebe (1972).

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Zitat:

In beson­derem Sinn und Grad kommt der Tugend der Zucht und des Maßes, als der wahren­den und wehren­den Ver­wirk­lichung der inneren Ord­nung des Men­schen, das Geschenk der Schön­heit zu. Nicht nur sie selb­st ist schön; sie macht auch den Men­schen schön.

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Aus­gabe:

  • 6. Auflage, München: Kösel 1991