Gerechtigkeit gehört seit je zu den Schlüsselbegriffen der politischen Philosophie. Das erklärt auch, warum der Begriff außerordentlich umstritten ist, was nicht nur mit der grundsätzlich positiven Besetzung zu tun hat — darin ähnelt die Gerechtigkeit der Freiheit -, sondern auch mit der stets drohenden Gefahr, daß Gerechtigkeit und Gleichheit verwechselt werden.
Diese Verwechslung hat ein langes Leben hinter sich, was sich etwa an den Konflikten in der attischen Polis nach dem Untergang der Aristokratie ablesen läßt. In immer neuen Anläufen wurde im Namen der Gerechtigkeit ein Mehr an Gleichheit durchgesetzt: von der Rechtsgleichheit der selbständigen Bürger bis zur weitgehenden, mittels staatlicher Umverteilung gewährleisteten sozialen Gleichheit aller Freien. Die Auseinandersetzung um diese und ähnliche Veränderungen bildet den Hintergrund für die besonderen Bemühungen der antiken Philosophie, präzise zu erfassen, was eigentlich “gerecht” ist.
Bei Platon wie bei Aristoteles oder Cicero wird das Bild der Harmonie in der Komposition gebraucht, die die vielen Stimmen so vereint, daß sie trotz ihrer Unterschiedlichkeit ein Ganzes (Ganzheit) bilden. Dem liegt die Annahme zugrunde, daß die Norm der Gerechtigkeit unverfügbar und göttlichen Ursprungs ist, was wiederum der kirchlichen Lehre vorarbeitete, die die nicht nur ausdrücklich in Beziehung zur göttlichen Gerechtigkeit setzte, sondern sie auch ethisch über die Tugendlehre — die Gerechtigkeit ist eine der Kardinaltugenden — besonders verankerte.
Fest etabliert hat sich im Zusammenhang mit dem politisch-philosophischen Nachdenken über Gerechtigkeit die Unterscheidung von “ausgleichender” (iustitia commutativa) und “austeilender Gerechtigkeit” (iustitia distributiva). Die erste nimmt für das Privatrecht eine strenge arithmetische Gleichheit der einzelnen an, die sich nach Maßgabe des volkstümlichen “Wie du mir, so ich dir” richtet, die zweite setzt demgegenüber eine Gemeinschaft voraus, die im bestimmten Fall Güter oder Lasten auf ihre Glieder verteilt, je nach Maßgabe ihres Verdienstes, ihrer Bedürftigkeit oder ihrer Belastbarkeit.
Es liegt auf der Hand, daß sich die politische Linke immer wieder der distributiven Gerechtigkeit zu bedienen suchte, um ihre egalitären Ziele zu erreichen. Von der “Chancengerechtigkeit” im Bildungswesen bis zur “gerechten Weltwirtschaftsordnung” handelt es sich aber im Grunde um Konzepte, die keinem anderen Zweck als dem der Angleichung des Verschiedenen dienen. Natürlich wird das Ziel mit diesen Methoden aber nicht erreicht, nur die Menge austeilender Instanzen vermehrt und permanent neuer Handlungsbedarf entdeckt, um weitere “Gerechtigkeitslücken” zu stopfen.
Die Gegenseite befindet sich in der unangenehmen Situation, den Begriff der Gerechtigkeit genausowenig aufgeben zu können wie den der Freiheit, aber gleichzeitig klarstellen zu müssen, daß die Linke auch hier mit einem großen Wort Schindluder treibt. Nur ausnahmsweise wird dabei die Berechtigung der distributiven Gerechtigkeit ganz bestritten — vor allem indem man deren Begründung durch das Naturrecht in Abrede stellt -, häufiger ist der Versuch, die staatlichen Voraussetzungen von Gerechtigkeit zu betonen, damit auch die relative Begrenztheit ihrer Wirkungen und der innere Zusammenhang von Freiheit und Gerechtigkeit verstanden werden kann, der sich daraus erklärt, daß nur das gerechte Handeln selbständiger Individuen als ethisch betrachtet werden kann und daß nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts die Erfolge totalitärer Systeme nicht zuletzt daraus zu erklären sind, daß sie eine bestimmte Form “sozialer Gerechtigkeit” durchzusetzen versprachen:
Wenn die Regierung nicht bloß die Erreichung gewisser Standards für die Einzelnen erleichtern will, sondern sichern will, daß jedermann sie erreicht, kann sie das nur, indem sie den Einzelnen darin jedweder Wahl beraubt. (Friedrich August von Hayek)
“Allen das Gleiche” ist eben nur in seltenen Ausnahmefällen gerecht, für gewöhnlich gilt “Jedem das Seine”. Das setzt natürlich ein wesentlich höheres Maß an Entscheidungsbereitschaft voraus und ein höheres Maß an Klugheit als die unterschiedslose Verteilung von Wohltaten.
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Zitate:
Gerechtigkeit ist nämlich die Tugend dessen, der über Macht verfügt: die Tugend des Stärkeren. Der Schwächere braucht keine Tugend, um an Symmetrie interessiert zu sein.
Suum cuique — Jedem das Seine.Wahlspruch des preußischen Ordens vom Schwarzen Adler
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Literatur:
- Friedrich August von Hayek: Die Verfassung der Freiheit [1971], zuletzt Tübingen 1991
- Robert Spaemann: Moralische Grundbegriffe [1982], zuletzt München 2004.