Lübbe, am 31. Dezember 1926 in Aurich geboren, studierte zwischen 1947 und 1951 Philosophie, Theologie und Soziologie in Göttingen, Münster und Freiburg i.Br. Joachim Ritter war sein maßgeblicher akademischer Lehrer, prägend in der Frühzeit war indes auch Heinrich Scholz, der sich seinerzeit aber bereits von der Religionsphilosophie der formalen Logik zugewandt hatte. Lübbe promovierte mit einem klassischen Thema: „Vollendung der Ding-an-sich-Problematik im Werke Kants“ und wurde dann Assistent des Heidegger-Schülers Gerhard Krüger in Frankfurt am Main. Dort nahm er auch an den gemeinsamen Oberseminaren von Horkheimer und Adorno teil.
Die Habilitation erfolgte 1956 in Erlangen und gilt dem Thema „Die Transzendentalphilosophie und das Problem der Geschichte“. In Erlangen lehrte Lübbe als Privat- und später als Universitätsdozent, wobei er auch Lehrveranstaltungen zu Marxismus und Leninismus abhielt. Er hatte die Möglichkeit solcher Debatten später wiederholt als Gegenargument gegen das vermeintlich restaurative Klima der jungen Bundesrepublik verstanden. Es folgten Stationen als Ordinarius an der neu gegründeten Ruhr-Universität in Bochum (1963–1969) und als Staatssekretär im Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen.
1971 wandte sich Lübbe von den Nachwirkungen von 1968, der Kultusbürokratie und den deutschen Zuständen insgesamt ab und übernahm 1971 ein Ordinariat an der Eidgenössischen Technischen Universität Zürich, wo er bis zu seiner Emeritierung 1991 lehrte. Nach 1991 blieb er seiner Alma mater als Honorarprofessor verbunden. Daneben nahm Lübbe zahlreiche Gastprofessuren wahr und erhielt hochrangige Ehrungen.
Von den herausragenden Vertretern der Ritterschule hat er sich (neben Rohrmoser) am intensivsten Praxis- und Zeitfragen gewidmet. Lübbes Grundkonzeption ist dezidiert liberal, damit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts verpflichtet. Lübbe formuliert von hier her in exemplarischer Weise den antitotalitären Konsens und die Abkehr von „Großideologien“, unter die er auch die moderne Technokratie, etwa im Sinn von Schelsky, summiert.
Er begann mit kenntnisreichen Studien zur Begriffsgeschichte, zur Tradition politischer Philosophie in Deutschland und zur Säkularisierung. Dem seinerzeit wenig bekannten narrativen Geschichtstheoretiker Wilhelm Schapp widmete er eingehende Studien. Geschichte hat Lübbe von hier her in ihrer Kontingenz, ihrer komplexen Struktur, zwischen Motiven, Strukturen, Personen, Nebenwirkungen und Verflechtungen gedacht. Geschichtsphilosophien, die auf einer prognosefähigen Konzipierung der Zukunft beruhen, hat er mit Karl R. Poppers Begriff des „Historizismus“ belegt und scharf zurückgewiesen. Umso mehr beschäftigte ihn umgekehrt die Ausbildung eines „historischen Sinns“ und die Musealisierung der Gegenwart, die immer durch die Verkürzung der Aufenthaltsdauer im Hier und Jetzt und die Veränderungsdynamik der Moderne immer stärker zunehme. Auf diese Weise schreibt Lübbe seinerseits die Kompensationsthese von Joachim Ritter fort.
Nicht minder ist er an der Zivilreligion interessiert. Darin könnte man einen funktionalen Religionsbegriff sehen: Religion ist für Lübbe in der Tat Kontingenzbewältigung. Dennoch hat er unzweideutig gezeigt, daß eine auf ihre äußerlich bleibende Funktion reduzierte Religion die in sie gesetzten Grunderwartungen kaum wird erfüllen können. Lübbes konzentrierte und differenzierte Studien zur Zivilreligion zeigen, daß nur ein spezifischer Gebrauch des Potentials von Religion in der Lage ist, dieses Desiderat einzulösen.
Lübbe setzt, in Entsprechung zu den Kommunitaristen und Pragmatisten in Amerika, auf den praktischen Sinn für das Tunliche als Stabilisierung öffentlichen Lebens, wobei ihm friesische und helvetische Erfahrungen in einem begrenzten öffentlichen Raum zugutegekommen sein mögen. Als Ursünde der 68er Revolte und dahinter jeder Revolution im Gefolge der Französischen begreift Lübbe, daß nicht die Veränderung, sondern der Status quo als rechtfertigungsbedürftig gilt. Ähnlich wie Odo Marquard verweist auch er auf die Gemeinwesen gefährdende Problematik des durchgehenden Emanzipationszwangs in der Folge der 68er–Bewegung.
Die globale Welt deutet Lübbe, in Anlehnung an die Erwartungen des 18. Jahrhunderts, als eine Ökumene des Ausgleichs. Anders als Rohrmoser, versteht er die Gegenwart nicht vom Ausnahmezustand und drohenden Ernstfall her. In diesem Sinn hat er auch Carl Schmitt liberal zu rezipieren und weiterzudenken versucht. Und eben dies bringt ihn, zumindest aus der Rückschau (Jens Hacke) in größere Nähe zu der pragmatistischen und liberalen Umzeichnung des Neomarxismus bei Jürgen Habermas als jeden anderen Vertreter der Ritterschule.
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Zitat:
Die totalitären Geschichtssinnvollstrecker haben in der Tat mir ihren Opfern zugleich ihr Fortleben im Gedächtnis der Nachwelt zu liquidieren versucht. Sogar ihre Namen noch wurden ausgelöscht und ihre Massengräber unkenntlich gemacht. Dagegen kontrastiert als kulturelle Normalität die fortdauernde Gegenwart der Toten in der Erinnerung, und der Friedhof ist der wichtigste Ort dieser Erinnerungskultur.
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Schriften:
- Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, München 1974
- Fortschritt als Orientierungsproblem. Aufklärung in der Gegenwart, Freiburg i.Br. 1975
- Religion nach der Aufklärung, Graz 1986
- Fortschrittsreaktionen. Über konservative und destruktive Modernität, Graz 1987
- Die Aufdringlichkeit der Geschichte. Herausforderungen der Moderne vom Historismus bis zum Nationalsozialismus, Graz 1989
- Der Lebenssinn der Industriegesellschaft. Über die moralische Verfassung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, Berlin 1990
- Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin 1992
- Abschied vom Superstaat. Vereinigte Staaten von Europa wird es nicht geben, Berlin 1994
- ‚Ich entschuldige mich‘. Das neue politische Bußritual, Berlin 2001
- Modernisierungsgewinner. Religion, Geschichtssinn, Direkte Demokratie und Moral, München 2004
- Die Zivilisationsökumene. Globalisierung kulturell, technisch und politisch, München 2005
- Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten, München 2007
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Literatur:
- Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006