Hübner, Kurt, Philosoph, 1921–2013

Der aus ein­er deutsch-böh­mis­chen stam­mende Hüb­n­er, geboren am 1. Sep­tem­ber 1921 in Prag, studierte zunächst in sein­er Heimat­stadt, nach Kriegsende in Ros­tock und Kiel Philoso­phie. 1951 schloß er mit ein­er Pro­mo­tion über Kants Opus pos­tu­mum ab und habil­i­tierte sich vier Jahre später mit ein­er Arbeit über den „logis­chen Pos­i­tivis­mus und die Meta­physik“. Von 1960 bis 1971 lehrte Hüb­n­er als Pro­fes­sor an der Tech­nis­chen Uni­ver­sität Berlin, danach, bis zu sein­er Emer­i­tierung 1988, an der Uni­ver­sität Kiel.

Der Schw­er­punkt sein­er Arbeit lag ursprünglich bei der Philoso­phie der Natur­wis­senschaften, ins­beson­dere der Physik. Aber schon in sein­er 1978 erschiene­nen Kri­tik der wis­senschaftlichen Ver­nun­ft machte sich seine Skep­sis gegenüber dem Allein­gel­tungsanspruch des szi­en­tis­tis­chen Welt­bilds gel­tend. Hüb­n­er zeigte auf, daß wis­senschaftlich­es Arbeit­en nicht voraus­set­zungs­los möglich sei. Vielmehr beruhe es auf Set­zun­gen, auch solchen axioma­tis­ch­er Art, die selb­st kein­er wis­senschaftlichen Prü­fung unter­wor­fen wer­den kön­nen.

Was den Ansatz Hüb­n­ers von ähn­lichen The­o­rien unter­schied, war die Behaup­tung, daß auch die mythis­che Welt­sicht als Sys­tem­menge beschrieben wer­den könne, die in bezug auf Kon­sis­tenz und lebenser­hal­tende Funk­tion mit der mod­er­nen ver­gle­ich­bar sei. Allerd­ings brachte erst Hüb­n­ers Buch Die Wahrheit des Mythos (1985) diese These in eine sys­tem­a­tis­che Form und wandte sich – trotz des unverkennbar wis­senschaftlichen Charak­ters – an eine bre­it­ere Öffentlichkeit. Die Wahrheit des Mythos dürfte zu den am inten­sivsten disku­tierten philosophis­chen Werken im Deutsch­land der Nachkriegszeit gehört haben.

Nach Hüb­n­er ver­ste­hen Mythen die Real­ität mit Hil­fe von Erzäh­lun­gen über „Ursprungsereignisse“. Diese Ursprungsereignisse gescha­hen ille tem­pore, in ein­er heili­gen Zeit jen­seits der Zeit, sie haben keine Geschichte, son­dern „ste­hen“ unverän­der­lich: Insofern gibt es in der mythis­chen arché eigentlich keine Zeit, nur ihre Spiegelung in der Imma­nenz läßt den Ein­druck entste­hen, als vol­lziehe sich die ewige Wiederkehr des Gle­ichen. Diese für alle tra­di­tionalen Kul­turen zen­trale Vorstel­lung – die im Zyk­lus der Jahreszeit­en genau­so ihren Nieder­schlag find­et wie in der Abfolge der Wochen­t­age – gibt aber nur ein Abbild der mythis­chen Wirk­lichkeit und darf nicht mit ihr selb­st ver­wech­selt wer­den.

Daß der Mythos in Europa schon seit der ion­is­chen Aufk­lärung und dann vor allem im Zuge der Säku­lar­isierung einen Bedeu­tungsver­lust erlitt, stellte Hüb­n­er nicht in Abrede. Allerd­ings kön­nen die Mythen nicht vol­lkom­men ver­schwinden. Sie bieten ein alter­na­tives Weltver­ständ­nis, das die wis­senschaftliche Zivil­i­sa­tion nicht mit eige­nen Mit­teln zu erset­zen ver­mag. Der Mythos bietet Antworten, die wed­er Empirie noch math­e­ma­tisch kon­trol­lierte Ratio­nal­ität zu geben ver­mö­gen. Die Reli­gion kann deshalb nach Hüb­n­er nicht auf die arche­typ­is­che Kraft und die Anschaulichkeit des Mythos verzicht­en. Das gelte auch und ger­ade für das Chris­ten­tum, das seit seinen Anfän­gen mit Mythenkri­tik ver­bun­den war, aber in seinem Inneren starke mythis­che Ele­mente enthalte. Die Lehre von der leib­lichen Aufer­ste­hung etwa, dürfe die Kirche nicht fall­en lassen, nur weil sie der mod­er­nen Wirk­lichkeit­sauf­fas­sung anstößig sei. Mit dem bild­haften Aus­druck gehe son­st auch der Kern der Botschaft ver­loren. Der Argu­men­ta­tion mit dem All­t­agswis­sen von der ratio­nalen Bed­ingth­eit alles Vorhan­de­nen (wer ein elek­trisches Radi­ogerät benutzt, kann keinen Mythos akzep­tieren) ent­geg­nete Hüb­n­er, daß deren Plau­si­bil­ität bei genauer­er Betra­ch­tung hin­fäl­lig werde.

Die bleibende Macht des Mythis­chen auch in der Neuzeit hat Hüb­n­er son­st an Beispie­len deut­lich gemacht, die sich auf Lit­er­atur, Musik und bildende Kun­st beziehen – hier vor allem Ver­weise auf Hölder­lin, Wag­n­er und Klee –, aber auch auf die Poli­tik. Bei­den Bere­ichen fol­gten später eigene Ausar­beitun­gen mit den Büch­ern Die zweite Schöp­fung und Das Nationale. Was an dem zulet­zt genan­nten beson­ders bemerkenswert erscheint, ist die Deut­lichkeit, mit der Hüb­n­er die mythis­che Struk­tur poli­tis­ch­er Kern­vorstel­lun­gen analysiert und für legit­im erk­lärt. Er tut das in aus­drück­lich­er Wen­dung gegen die übliche Mythenkri­tik der Linken, etwa von Roland Barthes, aber ohne Rekurs auf die lange Tra­di­tion ein­er pos­i­tiv­en Wer­tung des Mythos auf der Recht­en. Trotz dieser Ein­schränkung wird man sagen dür­fen, daß Das Nationale in der Anlage eine ganze kon­ser­v­a­tive Staat­sphiloso­phie der Neuzeit gibt. Ihren Aus­gangspunkt nehmen Hüb­n­ers Über­legun­gen bei der „ungelösten Grund­frage“ der mod­er­nen poli­tis­chen The­o­rien, die alle an ratio­nal­is­tis­chen und indi­vid­u­al­is­tis­chen Vorstel­lun­gen fes­thiel­ten, obwohl sich die Frage nach den „tief­er­en Bindekräften“ ein­er Gemein­schaft schon mit der Amerikanis­chen und der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion Ende des 18. Jahrhun­derts unab­weis­lich stellte.

Nur die Roman­tik habe mit dem Rück­griff auf die Nation – nicht als ein mech­a­nis­tisch aus Einzel­nen gewil­lkürtes Ganzes, son­dern als organ­is­che, his­torische Ein­heit – den richti­gen Weg beschrit­ten. Ihre Auf­fas­sung habe zwar deut­liche Gren­zen, insofern sie eine „Wesen­si­d­en­tität“ der Nation behauptete, wo nur eine his­torische Iden­tität zu begrün­den sei, was aber nicht berechtige, das „ontol­o­gis­che Recht des mythis­chen Nation­al­be­wußt­seins“ grund­sät­zlich in Frage zu stellen. Vielmehr müsse man den aktuellen Staat­s­the­o­rien durchgängig den Vor­wurf machen, daß sie mit ihrer Igno­ranz gegenüber der Bedeu­tung von „ganzheitlichen Grund­vorstel­lun­gen“ im Poli­tis­chen die Voraus­set­zun­gen gelin­gen­der Inte­gra­tion über­sähen. Volk oder Nation als Ein­heit könne man nur mythisch entwer­fen, für ihren Bestand sind Erzäh­lun­gen vom Ursprung und Schick­sal des Kollek­tivs eben­so unverzicht­bar wie die Annahme eines Sinns in der nationalen Geschichte. Gesellschaften von großer Het­ero­gen­ität, wie sie etwa der Mul­ti­kul­tur­al­is­mus anstrebe, kön­nten solche Erzäh­lun­gen nicht glaub­würdig tradieren. Ihre Durch­set­zung werde die Bedeu­tung poli­tis­ch­er Mythen nicht ver­schwinden lassen, aber die Natio­nen als deren Träger.

Kurt Hüb­n­er ver­starb am 8. Feb­ru­ar 2013 in Kiel.

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Zitat:

Wo lebendig geglaubt und nicht nur philosophisch-wis­senschaftlich argu­men­tiert wird, da wird auch mythisch erlebt, man drehe und wende es wie man will.

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Schriften:

  • Beiträge zur Philoso­phie der Physik, Tübin­gen 1963
  • Kri­tik der wis­senschaftlichen Ver­nun­ft, Freiburg i. Br./ München 1978
  • Die Wahrheit des Mythos, München 1985
  • Das Nationale – Ver­drängtes, Unver­mei­dlich­es, Erstrebenswertes, Graz 1991
  • Die zweite Schöp­fung. Das Wirk­liche in Kun­st und Musik, München 1994
  • Glaube und Denken. Dimen­sio­nen der Wirk­lichkeit, Tübin­gen 2001
  • Das Chris­ten­tum im Wettstre­it der Wel­tre­li­gio­nen. Zur Frage der Tol­er­anz, Tübin­gen 2003
  • Irrwege und Wege der The­olo­gie in die Mod­erne, Augs­burg 2006

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Lit­er­atur:

  • Weiß­mann; Karl­heinz: Autoren­porträt Kurt Hüb­n­er, in: Sezes­sion 2007, Heft 18