Leipzig – Völkerschlachtdenkmal

Der His­torik­er Thomas Nip­perdey hat seine berühmte Deutsche Geschichte 1800–1918 mit den Worten begin­nen lassen: »Am Anfang war Napoleon.« Gemeint war damit u. a., daß die deutsche Nation­al­be­we­gung – und damit auch das mod­erne poli­tis­che Nation­al­be­wußt­sein in Deutsch­land – ihren Ursprung in der Abwehr der napoleonis­chen Fremd­herrschaft hat­te. Tat­säch­lich wur­den die Befreiungskriege 1813 bis 1815 zu ein­er Art Grün­dungsmythos der Nation, zuerst nur aus Sicht der lib­eralen Nation­al­be­we­gung, seit dem Ende des 19. Jahrhun­derts aber auch darüber hin­aus. Im Völk­er­schlacht­denkmal hat dieser Mythos seinen imposan­testen, auch heute noch erleb­baren Aus­druck gefun­den.

Die Vorgeschichte des Denkmals ist lang; sie führt im Grunde bis unmit­tel­bar an die Schlacht selb­st zurück. Daß die in der Nähe von Leipzig um den 18. Okto­ber 1813 herum geführten Kämpfe zum Sinnbild der Befreiungskriege ins­ge­samt wur­den, hat­te weniger mit ihrer mil­itärischen Bedeu­tung zu tun als vielmehr mit dem unge­heuren Aus­maß der bis dahin größten Schlacht Europas. Im Begriff der Völk­er­schlacht selb­st wiederum lag eine Dop­peldeutigkeit, da die »Völk­er« sich entwed­er kon­ser­v­a­tiv auf das Heeresvolk oder »pro­gres­siv« auf das Volk als geschichtlich Han­del­nden beziehen kon­nten.

Für den deutschen Mythos war beson­ders bedeut­sam, daß Sach­sen und Würt­tem­berg­er, die bis dahin in der franzö­sis­chen Armee gedi­ent hat­ten, hier mit­ten in der Schlacht die Seit­en wech­sel­ten, um für die deutsche Sache zu kämpfen. Der nationale Enthu­si­as­mus war unmit­tel­bar nach der Schlacht beson­ders groß: Am ersten Jahrestag im Okto­ber 1814 fand eine Gedenk­feier statt, die Volks­festcharak­ter hat­te, und die Wort­führer der Nation­al­be­we­gung disku­tierten ver­schiedene Entwürfe für ein Denkmal. Am promi­nen­testen war der Vorschlag Ernst Moritz Arndts, in Leipzig ein »echt ger­man­is­ches und echt christlich­es« Völk­er­schlacht­denkmal zu erricht­en.

Die Restau­ra­tion nach 1815 machte diese Pläne aber vor­läu­fig zunichte. Staatlich­er­seits wurde eine kon­ser­v­a­tiv-dynas­tis­che Deu­tung der Befreiungskriege durchge­set­zt, nach der sich das Volk erst auf den Ruf des preußis­chen Königs vom März 1813 hin erhoben habe und in jedem Falle die »Fürsten und ihre Min­is­ter, und ihre Feld­her­ren« (Friedrich von Gentz) das Entschei­dende voll­bracht hät­ten. Die tat­säch­lich errichteten Gefal­l­enen­denkmäler – wie etwa das von Karl Friedrich Schinkel ent­wor­fene auf dem Berlin­er Kreuzberg – trans­portierten genau diese dynas­tis­che Deu­tung. Aus­ge­blendet wurde hier nicht nur die »Vorgeschichte« von 1813 (Tau­roggen) mit den gescheit­erten Erhe­bun­gen Hofers, Dörn­bergs und Schills 1809, son­dern auch die Rolle der lib­er­al­na­tionalen Intel­li­genz und die der zahlre­ichen frei­willi­gen Landwehrkämpfer und der Freiko­rps in der geisti­gen sowie der konkreten Kriegführung.

Dabei hat­ten die Lib­eralen sowohl ihre Mär­tyr­er, wie den mit »Leier und Schw­ert« gefal­l­enen Dichter­sol­dat­en Theodor Körn­er, als auch ihre Vor­denker, wie Ernst Moritz Arndt und Johann Got­tlieb Fichte, dessen Reden an die deutsche Nation anfangs gefeiert, schon bald aber ver­boten wur­den.

Das Prob­lem war die Gen­er­aldeu­tung der »Frei­heit­skriege«, deren Ziel nicht nur die Ein­heit der Nation, son­dern auch ihre ver­fas­sungsrechtlich garantierte Frei­heit gewe­sen sei. Das führte zum Auss­chluß der Lib­eralen aus der öffentlichen Erin­nerung an die Befreiungskriege, die neben der dynas­tisch-kon­ser­v­a­tiv­en dur­chaus noch Platz bot für eine volk­stüm­lichere, an einem spez­i­fisch preußis­chen Patri­o­tismus ori­en­tierte Deu­tung, die vor allem in den zumeist bürg­er­lich ini­ti­ierten Offiziers­denkmälern zum Aus­druck kam.

Erst durch die Reichs­grün­dung 1871 änderte sich diese Sit­u­a­tion. Mit der (klein-)deutschen Ein­heit war ein wesentlich­es Ziel der lib­eralen Nation­al­be­we­gung ver­wirk­licht, deren Beitrag zur jüng­sten deutschen Geschichte vor diesem Hin­ter­grund nun auch pos­i­tiv gewürdigt wer­den kon­nte. So ent­stand im Kaiser­re­ich in bezug auf die Erin­nerung an die Befreiungskriege allmäh­lich eine gesamt­na­tionale Syn­these, die in der let­zten Phase des Wil­helmin­is­mus, vor allem 1913 im Rah­men der Jubiläums­feier­lichkeit­en (Hoher Meißn­er), ihren Höhep­unkt erre­ichte.

In diesem Jahr fand auch die Ein­wei­hung des Leipziger Völk­er­schlacht­denkmals statt. Die Pla­nun­gen hat­ten bere­its 1894, die Bauar­beit­en 1898 begonnen; Bauherr war nicht der Staat, son­dern der »Deutsche Patri­oten­bund zur Errich­tung eines Völk­er­schlacht-Nation­aldenkmals«, der sich über Spenden finanzierte. Als Architek­ten gewann man mit Bruno Schmitz einen aus­gewiese­nen Spezial­is­ten, der schon das Kyffhäuser­denkmal ent­wor­fen hat­te. Es ent­stand ein 91 Meter hoher Mon­u­men­tal­bau, in dessen Innerem sich eine Ruhme­shalle und eine Kryp­ta befind­en. Die zahlre­ichen stein­er­nen Fig­uren, teil­weise lebens­groß, teil­weise deut­lich größer, sind fast alle »anonym«, einzig die Fig­ur am Ein­gang ist als Sankt Michael iden­ti­fizier­bar. Der Erzen­gel galt nicht nur als Schutz­pa­tron der Sol­dat­en, son­dern auch des Heili­gen Römis­chen Reich­es Deutsch­er Nation ins­ge­samt. Schon Schinkel – und mit ihm Friedrich Wil­helm IV. – hat­te ver­sucht, Sankt Michael wieder als deutschen Nation­al­heili­gen zu etablieren; im Wil­helmin­is­mus fand dieser Ver­such – beson­ders gefördert von Kaiser Wil­helm II. – seine größte Res­o­nanz.

Abge­se­hen davon wies das Bild­pro­gramm des Völk­er­schlacht­denkmals aber wenig Bezugspunk­te zur dynas­tis­chen Deu­tung der Befreiungskriege auf; eher ging es bere­its in die Rich­tung jen­er, die nach dem Zusam­men­bruch von 1918 als Nation­al­rev­o­lu­tionäre ein »neues 1813« (Richard Scheringer) forderten, also eine neue Volk­ser­he­bung, die die neuen Besatzer aus dem Land jagen sollte. Die Machtüber­nahme der Nation­al­sozial­is­ten wurde von manchen tat­säch­lich als eine solche Erhe­bung betra­chtet; allerd­ings hat Hitler nor­maler­weise den Bezug auf 1813 ver­mieden, weil ihm nicht nur die lib­erale Nation­al­be­we­gung, son­dern auch schon die preußis­chen Reformer zu demokratisch waren und er sich selb­st eher am Vor­bild Napoleons als an dem sein­er Geg­n­er ori­en­tierte. Nur in der End­phase des Krieges ver­suchte Joseph Goebbels mit dem am 18. Okto­ber 1944 aus­gerufe­nen »Volkssturm« und mit dem Film Kol­berg den Nationalmythos von 1813 für eine let­zte Mobil­isierung zu nutzen.

Den neuen Machthabern nach 1945 fiel der Umgang mit den Befreiungskriegen und dem Völk­er­schlacht­denkmal wesentlich leichter. Die DDR reklamierte die lib­er­al­na­tionale Tra­di­tion von 1813 für sich und kon­nte außer­dem darauf ver­weisen, daß man hier ein direkt auf die gegen­wär­tige Sit­u­a­tion über­trag­bares his­torisches Beispiel für deutsch-rus­sis­che Waf­fen­brüder­schaft gegen einen impe­ri­al­is­tis­chen Feind im West­en habe. Es fan­den daher auch regelmäßig Aufmärsche der NVA am Fuße des Denkmals und Gedenk­feiern zu den run­den Jubiläen der Völk­er­schlacht statt. Die Bun­desre­pub­lik dage­gen hat kein recht­es Ver­hält­nis zur Tra­di­tion von 1813 gewin­nen kön­nen.

Dieses Prob­lem hat sich nach der Wiedervere­ini­gung noch ver­stärkt. Pos­i­tive Nationalmythen sind heute in Deutsch­land generell uner­wün­scht. Im Falle der Befreiungskriege ist das beson­ders deut­lich; hier find­et eine ten­den­zielle Umw­er­tung statt, mit dem Tenor, daß es für die europäis­che Geschichte vielle­icht bess­er gewe­sen wäre, wenn Napoleon gesiegt hätte. Das ist an sich schon erstaunlich national­masochis­tisch, ist aber nur die eine Seite der Medaille; die andere liegt darin, daß die his­torische Forschung längst von einem ganz anderen »Mythos vom Befreiungskrieg« (Ute Plan­ert) spricht. Damit wiederum ist gemeint, daß alles Reden von nationaler Befreiung und all­ge­mein­er Volk­ser­he­bung in bezug auf 1813 auf Täuschung beruhe. Tat­säch­lich, so die gängige
Argu­men­ta­tion in ein­er Mis­chung aus Unver­ständ­nis und bösem Willen, han­dele es sich dabei um eine nation­al­is­tis­che »Kon­struk­tion«, die die hohen Deser­tion­srat­en außer acht lasse und die nationale Moti­va­tion der Beteiligten über­schätze.

Das ist auch der Grund dafür, warum das Jubiläum­s­jahr 2013 so sträflich ungenutzt blieb, es keine Großver­anstal­tun­gen gab, keine Gedenkstun­den für Schill, Dörn­berg, Körn­er oder wenig­stens Eleonore Pro­chas­ka, keine Feiern für Arndt, Fichte oder Blüch­er und natür­lich auch keine Fernseh- oder Kino­pro­duk­tion, die den Mythos wieder­beleben würde. Wie bei so vielem in der deutschen Geschichte ist auch hier der einzelne auf sich selb­st zurück­ge­wor­fen, den Befreiungskriegen ein würdi­ges Andenken zu bewahren. Das Völk­er­schlacht­denkmal in Leipzig bleibt hier­für der gebotene Ort.

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Lit­er­atur:

  • Thomas Nip­perdey: Nation­alidee und Nation­aldenkmal in Deutsch­land im 19. Jahrhun­dert, in: HZ 206 (1968), S. 529–585
  • Andreas Platthaus: 1813. Die Völk­er­schlacht und das Ende der alten Welt, Berlin 2013
  • Kirstin Anne Schäfer: Die Völk­er­schlacht, in: Eti­enne Francois/Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erin­nerung­sorte II, München 2001, S. 187–201