Rationalismus in der Politik — Michael Oakeshott, 1962

Die gedanken­re­ichen und scharf­sin­ni­gen Essays des englis­chen poli­tis­chen Philosophen Michael Oakeshott gehören zu den bedeu­tend­sten Beiträ­gen zur Philoso­phie des Kon­ser­vatismus. Ratio­nal­is­mus in der Poli­tik ver­sam­melt die wichtig­sten, meist erstaunlich unakademis­chen Pub­lika­tio­nen Oakeshotts aus den Jahren nach dem Zweit­en Weltkrieg, darunter auch seine klas­sis­che Antrittsvor­lesung an der Lon­don School of Eco­nom­ics, die für Auf­se­hen sorgte.

Sie stellen eine bedeu­tende Kri­tik an dem Irrglauben der Plan­barkeit gesellschaftlich­er Entwick­lun­gen dar, der im 20. Jahrhun­dert in viel­er Hin­sicht das Feld bes­timmte. »Ratio­nal­is­mus« war für Oakeshott jene Ide­olo­gie, die sich im Glauben wäh­nte, Poli­tik könne gewis­ser­maßen den »Turm zu Babel« erricht­en, indem ange­blich irra­tionale Ele­mente des Daseins aus­geschal­tet wer­den. Dies traf nach Oakeshott keineswegs nur auf den Sozial­is­mus zu, der zweifel­los das Parade­beispiel für die Ide­olo­gie der Plan­barkeit darstellt. Oakeshotts Charak­ter­is­tik des »Ratio­nal­is­ten« als Typus war von satirisch­er Tre­ff­sicher­heit; seine real­is­tis­che Ein­sicht in die Gren­zen der Poli­tik wirk­ten im wei­thin sozial­is­tisch geprägten Kli­ma des 20. Jahrhun­derts befreiend. Denn Oakeshott scheute sich nicht, mit großer Selb­stver­ständlichkeit kon­ser­v­a­tive Grun­dein­sicht­en in Erin­nerung zu rufen, die nach wie vor Gültigkeit beanspruchen dür­fen.

Vor allem betonte Oakeshott den gelebten und nie völ­lig explizier­baren Kern ein­er Tra­di­tion, die das Leben eines Volkes prägt. Oakeshotts Kon­ser­vatismus zeich­net sich durch eine Wertschätzung des Plu­ral­is­mus aus, die ihn gegen alle total­itären und vere­in­heitlichen­den Ten­den­zen Stel­lung beziehen ließ. Gegen die Vorherrschaft der Stimme der Wis­senschaft oder der Poli­tik vertei­digte er auch das Recht und die Notwendigkeit der Kun­st als ein­er Stimme im Gespräch der Men­schheit, wie er in einem sein­er bedeu­tend­sten Essays aus­führt. Kun­st erscheint bei Oakeshott als wider­ständi­ge Diskurs­form, die den Tota­lanspruch des Ratio­nal­is­mus in sein­er poli­tis­chen und szi­en­tis­tis­chen Form in die Schranken weist.

Oakeshotts fein­füh­lige Skizze der kon­ser­v­a­tiv­en Wesen­sart (»On being con­ser­v­a­tive«) zeigt, daß der Kon­ser­v­a­tive in ein­er bes­timmten Weise denkt und sich ver­hält, daß er bes­timmte For­men des Betra­gens anderen vorzieht und bes­timmte Entschei­dun­gen trifft. Oakeshotts Ver­ständ­nis der kon­ser­v­a­tiv­en Hal­tung enthält keine Idol­isierung der Ver­gan­gen­heit und dessen, was vor­bei ist. Kon­ser­v­a­tiv ist die Schätzung von etwas, das hier und jet­zt existiert, weil es uns ver­traut ist und wir daran hän­gen. Als Ver­hal­tens­dis­po­si­tion kann Kon­ser­vatismus daher nur existieren, wenn es aus­re­ichende Gründe dafür gibt, sich an der Gegen­wart zu erfreuen. Kon­ser­v­a­tiv zu sein, bedeutet, das Ver­traute dem Unbekan­nten vorzuziehen, das Bewährte dem Unbe­währten, die Tat­sache dem Mys­teri­um, das tat­säch­lich Gegebene dem bloß Möglichen, das Begren­zte dem Unbe­gren­zten, das Nahe dem Fer­nen, das Aus­re­ichende der Über­fülle, das Prak­tis­che dem Per­fek­ten und die Freude im Jet­zt dem utopis­chen Heil.

Oakeshotts feines Gespür für die Leben­szusam­men­hänge, aus dem alle For­men der Prax­is erwach­sen, unter­stre­icht die Beschränk­theit reduk­tion­is­tis­ch­er Zugangsweisen zur men­schlichen Wirk­lichkeit. So betont er, es bedeutet, nichts zu wis­sen, wenn man nur den Kern ein­er Sache ken­nt: »Nicht eine abstrak­te Idee oder einige Kun­st­griffe sind zu ler­nen, nicht ein­mal ein Rit­us, son­dern eine konkrete, in sich zusam­men­hän­gende Lebensweise in allen ihren Verzwei­gun­gen.«

Oakeshotts Form des Kon­ser­vatismus betonte die Rolle des Staates zur Sicherung von Rechtsstaatlichkeit. Der Staat sollte nach Oakeshott die Ein­hal­tung von Ver­hal­tensregeln sank­tion­ieren, nicht aber den Inhalt der geisti­gen Auseinan­der­set­zun­gen unter den Rechtsgenossen, den Bürg­ern, steuern und bes­tim­men. Die Staats­funk­tio­nen soll­ten auf das Wesentliche konzen­tri­ert wer­den, der Staat aber keines­falls über Wahrheit und Irrtum befind­en; die nötige Loy­al­ität der Bürg­er wird durch die Gewährleis­tung des inneren Friedens erzeugt. Der Staat sollte sich als Schied­srichter über die Recht­sregeln nicht selb­st zum Mit­spiel­er machen. Wenn sich Träume mit dem Regieren verbinden, entste­ht daraus Tyran­nei.

Oakeshotts skep­tis­ches Poli­tik­denken gab sich nicht der Hoff­nung hin, große poli­tis­che Verän­derun­gen bewirken zu kön­nen; besten­falls kann es, so Oakeshott, dazu beitra­gen, schiefes Denken zu beseit­i­gen und sich nicht mehr so häu­fig von unklaren Behaup­tun­gen und irrel­e­van­ten Argu­menten täuschen zu lassen. Oakeshotts Wirkung in der poli­tis­chen Philoso­phie hält, ver­stärkt durch mehrere Nach­laßpub­lika­tio­nen, an. Ratio­nal­is­mus in der Poli­tik bleibt der beste Zugang zu einem unver­min­dert aktuellen Werk.

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Zitat:

Das ist das Übel unser­er Zeit: Die Ratio­nal­is­ten arbeit­en schon so lange an ihrem Pro­jekt, die sit­tlichen Ide­ale aus dem sie tra­gen­den Zusam­men­hang zu des­til­lieren, daß uns nur noch der trock­ene, körnige Boden­satz verbleibt, der uns die Kehle ver­stopft. Zuerst zer­stören wir mit allen ver­füg­baren Mit­teln die Autorität der Eltern (weil sie ange­blich mißbraucht wor­den ist), dann bekla­gen wir gefüh­lvoll das Fehlen eines »guten Eltern­haus­es«.

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Aus­gabe:

  • Maßge­bliche englis­che Aus­gabe (erweit­ert), Indi­anapo­lis: Lib­er­ty Fund 1991

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Lit­er­atur:

  • Robert Grant: Oakeshott, Lon­don 1990
  • Till Kinzel: Michael Oakeshott. Philosoph der Poli­tik, Schnell­ro­da 2007
  • Edmund Neill: Michael Oakeshott, New York 2010