Zorn und Zeit — Peter Sloterdijk, 2006

Bere­its mit sein­er Kri­tik der zynis­chen Ver­nun­ft (1983) war Peter Slo­ter­dijk ein philosophis­ch­er Best­seller gelun­gen, der vor allem durch seine sub­tile Abrech­nung mit der Frank­furter Schule für Auf­se­hen sorgte. Diesem Ansatz blieb Slo­ter­dijk treu, ohne daraus ein Pro­gramm zu for­mulieren. Vielmehr zeigte er immer wieder, daß das philosophis­che Arse­nal dieser Schule erschöpft war, wenn es galt, eine neue Entwick­lung begrif­flich zu erfassen. Das war bei der deutschen Ein­heit nicht anders als bei Fra­gen der Genetik oder der Glob­al­isierung und den damit zusam­men­hän­gen­den poli­tis­chen Imp­lika­tio­nen. Speziell die deutsche aber auch die europäis­che Verza­gth­eit angesichts der Her­aus­forderun­gen des inter­na­tionalen Ter­ror­is­mus läßt Slo­ter­dijk
die Frage nach dem stellen, was zum poli­tis­chen Han­deln motiviert. Der Human­is­mus ist es, wie Slo­ter­dijk in Anlehnung an Gehlen und Hei­deg­ger behauptet, der uns schwächt und uns vor den Her­aus­forderun­gen ver­sagen läßt.

Deshalb fordert er in Zorn und Zeit eine Reha­bil­i­tierung des Zorns im Sinne der bipo­laren Psy­cholo­gie der Griechen als Gegengewicht zur human­itären Gesin­nung. Unter Zorn ver­ste­ht Slo­ter­dijk das »Ein­swer­den mit dem puren Antrieb«, wie er es am Beispiel des Achill demon­stri­ert. Diese kriegerische Tugend ver­fiel bere­its in Griechen­land, den­noch ist in der Antike das Bewußt­sein erhal­ten geblieben, daß es ohne »Beherztheit« (ein­er Schwund­stufe des Zorns) nicht möglich ist, ein Gemein­we­sen zu vertei­di­gen. Die Deutschen ste­hen dabei denkbar schlecht da, denn »sie brin­gen nach 1945 eine Son­der­aus­gabe von Beherztheit her­aus – die viel­gelobte Zivil­courage, die Mager­stufe des Muts für Ver­lier­er«.

Im west­lichen Teil Europas sieht es nicht viel bess­er aus: In der durch die Psy­cho­analyse ver­dor­be­nen Kul­tur, so Slo­ter­dijk, gilt jede dieser Regun­gen wie »Stolz, Empörung, Zorn, Ambi­tion, hoher Selb­st­be­haup­tungswille und akute Kampf­bere­itschaft« als Folge eines neu­ro­tis­chen Kom­plex­es. Slo­ter­dijk fordert den Stolz als notwendi­ges Kor­rek­tiv, um unser Han­deln aus der Ein­seit­igkeit zu befreien: »Große Poli­tik geschieht allein im Modus von Bal­anceübun­gen. Die Bal­ance üben heißt, keinem notwendi­gen Kampf auswe­ichen, keinen über­flüs­si­gen provozieren.«

Den »Zorn« benutzt Slo­ter­dijk in seinem Buch als Schlüs­sel zur Welt­geschichte. Mit ihm sollen sich nicht nur die gegen­wär­ti­gen Kon­flik­te mit der islamis­chen Welt, son­dern auch die Kon­stel­la­tio­nen der Ver­gan­gen­heit erschließen. Slo­ter­dijk stellt zwei his­torische »Zorn­samm­lun­gen« aus­führlich dar: die »katholis­che Zorn-Gottes-Lehre und die kom­mu­nis­tis­che Organ­i­sa­tion der anti­bour­geoisen und antikap­i­tal­is­tis­chen Zorn­massen«. Der Zusam­men­hang zwis­chen bei­den beste­ht in ihrem heils­geschichtlichen Anspruch und in der his­torischen Abfolge. Mit der Aufk­lärung und der Her­aufkun­ft der Mod­erne war das Chris­ten­tum nicht mehr in der Lage, den zorni­gen Gott glaub­haft zu machen. Das über­nahm jet­zt die Rev­o­lu­tion, die einen ewigen Rachefeldzug gegen die Ungerechtigkeit­en der Ver­gan­gen­heit eröffnete und den Zorn der Massen zu kanal­isieren wußte. Diesem »Bürg­erkriegs­be­wußt­sein« entspringt in der Folge auch der Faschis­mus, wom­it Slo­ter­dijk Ernst Noltes These vom »kausalen Nexus« zwis­chen Kom­mu­nis­mus und Faschis­mus gle­ich­sam salon­fähig macht.

In der »Ära der Mitte«, dem postkom­mu­nis­tis­chen Zeital­ter, hat es der Zorn schw­er, weil es nie­man­den gibt, der ihn sam­melt. Selb­st in den Angrif­f­en der »zorni­gen jun­gen Män­ner«, ob es sich um den alltäglichen Vor­bürg­erkrieg in den Städten Europas oder den weltweit­en Ter­ror­is­mus han­delt, sieht Slo­ter­dijk nicht das Poten­tial, die Nach­folge der kom­mu­nis­tis­chen »Zorn­bank« anzutreten. Dem Islamis­mus fehlt die pos­i­tive Idee, er ist nur auf Rache und Ressen­ti­ment beschränkt. Aber auch dem Kap­i­tal­is­mus fehlt, so Slo­ter­dijk, die Weltidee. Er ste­ht ohne exis­ten­tielle Her­aus­forderung dar, die nur noch aus ihm selb­st her­aus erwach­sen kön­nte. Dafür jedoch sieht Slo­ter­dijk gute Aus­sicht­en, wenn er »realen Kap­i­tal­is­mus mit der Kol­lapsverzögerung in gier­dy­namis­chen Sys­te­men« über­set­zt. Gegen die Gier set­zt er den Stolz, der im Zorn grün­det und daher eine ähn­lich starke Antrieb­skraft des Men­schen darstellt. Aus dem Stolz würde der »vol­len­dete Kap­i­tal­is­mus« fol­gen, eine »Ökonomie der Gen­erosität«, in welch­er der Reich­tum »thy­mo­tisch« gebraucht, d. h. frei­willig gegeben wird.

Slo­ter­dijks Buch war ein Best­seller, der inten­siv besprochen wurde aber keine eigentliche Debat­te aus­löste. Erst im Zuge der Finanzkrise, die sich ab 2008 zu ein­er Krise der Real­wirtschaft entwick­elte, kon­nte Slo­ter­dijk mit sein­er »Rev­o­lu­tion der geben­den Hand« eine Diskus­sion über den »Semi-Sozial­is­mus« des steuer­fi­nanzierten Staates aus­lösen, indem er ver­wun­dert das Aus­bleiben des »fiskalis­chen Bürg­erkriegs« bemerk­te.

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Zitat:

Daß der Ver­lier­er, der zu oft ver­liert, das Spiel als solch­es gewalt­sam in Frage stellt: Diese Option macht den Ern­st­fall von Poli­tik nach dem Ende der Geschichte sicht­bar.

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Aus­gabe:

  • Aus­gabe: Taschen­buch, Frank­furt a. M.: Suhrkamp 2009

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Lit­er­atur:

  • Erik Lehn­ert: Autoren­por­trait Peter Slo­ter­dijk, in: Sezes­sion (2008), Heft 24