Biopolitik

Biopoli­tik ist – ent­ge­gen der heute gängi­gen The­o­rie von Michel Fou­cault und, in sein­er Folge, Gior­gio Agam­ben – nichts, was erst mit dem Auftreten des mod­er­nen Staates zus­tande kam. Biopoli­tik hat es seit jeher gegeben. Dafür spricht schon die von der Sozio­bi­olo­gie plau­si­bel gemachte Bedeu­tung aller natür­lichen Strate­gien zur Kon­trolle der Fortpflanzung. Auch wenn man damit nur Vor­for­men von Biopoli­tik im Sinn ein­er auf Lebenssicherung ori­en­tierten Strate­gie erk­lären kann, bleibt doch die Tat­sache, daß Anthro­polo­gie (Men­schen­bild) wie Eth­nolo­gie erhärtet haben, daß es keine Phase der men­schlichen Entwick­lung gegeben hat, in der nicht poli­tis­che mit »Bio-Macht« ein­herg­ing.

Wie in der Gegen­wart ging es auch in der Ver­gan­gen­heit wesentlich um drei Aspek­te:
1. Fortpflanzung, das heißt Klärung der Frage, unter welchen Umstän­den die Geburt eines Kindes erwün­scht, hin­nehm­bar oder uner­wün­scht sei, weit­er Maß­nah­men zur Ver­hin­derung von Schwanger­schaften beziehungsweise zur Abtö­tung im Mut­ter­leib oder nach der Geburt;
2. Krankheit, das heißt Bes­tim­mung, wem welche Hil­fe zwecks Gesun­dung zuge­s­tanden wird, wer zur Betreu­ung verpflichtet wer­den kann, welch­er Aufwand ins­ge­samt als annehm­bar gilt, welch­er nicht;
3. Alter, das heißt Fes­tle­gung des damit ein­herge­hen­den Sta­tus, unter Berück­sich­ti­gung der schwinden­den Selb­ständigkeit und Leben­skraft, mit der häu­fig eine enge Berührung zu 2. gegeben ist.

Daß Entschei­dun­gen auf den drei genan­nten Feldern dem einzel­nen über­lassen wur­den, war die Aus­nahme. Die Regel bilde­ten mehr oder weniger scharfe Vor­gaben der Gemein­schaft, im all­ge­meinen religiös sank­tion­iert und geset­zlich gefaßt. In bezug auf die Fortpflanzung ergab sich das zwin­gend, weil der immer heik­le Bere­ich des Geschlechtlichen hinein­spielte und das Inter­esse der poli­tis­chen Ein­heit an ihrer Dauer unter allen Umstän­den durchge­set­zt wer­den sollte. Daher rührt die Bedeu­tung restrik­tiv­er Maß­nah­men zur Unterbindung außer- oder vore­he­lich­er Sex­u­al­ität, weit­er die Rolle der offen­bar seit alters bekan­nten und ange­wandten Kon­trazep­ti­va sowie Ver­fahren zur Selek­tion des Nach­wuch­ses mit­tels Kinde­saus­set­zung oder ‑tötung. Davon waren neben Mäd­chen häu­fig auch Knaben betrof­fen, die mit ein­er Behin­derung zur Welt kamen.

Damit ist ein zweit­er Aspekt berührt: Zwar gibt es einige Indizien, die dafür sprechen, daß schon der Nean­der­taler schwer­be­hin­derte Kinder auf­zog, pflegte und in die Gruppe eingliederte, ander­er­seits ist die Übung, Neuge­borene mit kör­per­lichen oder geisti­gen Gebrechen sofort zu töten, eine bis in die Gegen­wart auch in Europa geübte Prax­is gewe­sen. Dahin­ter stand ohne Zweifel der Wun­sch, »unnütze Ess­er« zu ver­mei­den. Dieses Motiv spielte auch in der Behand­lung der Alten eine Rolle, wenn diese bei vorg­erück­ten Jahren wed­er zur Fortpflanzung noch zur Ernährung noch zum Schutz (Krieg) der Gemein­schaft beitra­gen kon­nten. Neben die Berichte der Völk­erkunde und der His­to­ri­ogra­phie über die Ehrung des Alters in der Ver­gan­gen­heit muß man die Infor­ma­tio­nen zu Altentö­tung und erzwun­genem Selb­st­mord stellen, die offen­bar in vie­len archais­chen Ver­bän­den üblich waren.

Selb­stver­ständlich blieben deren Kon­trollmöglichkeit­en begren­zt, aber im Fall ein­er antiken Polis wie Spar­ta waren sie doch so effek­tiv, daß die rigide Biopoli­tik, die sich auf die Geburten bezog und von Staats wegen über Leben oder Tod eines Neuge­bore­nen entsch­ied, aus­ge­sprochen wirk­sam gewe­sen sein muß. An dem spar­tanis­chen Mod­ell haben sich viele spätere Mod­elle ori­en­tiert, die einen voll­ständi­gen biopoli­tis­chen Zugriff des Staates erre­ichen woll­ten. Ein Ziel, dem man – trotz älter­er Züch­tungsphan­tasien – erst in der Neuzeit näher kam.

Allerd­ings blieben auch die »Peu­pli­erun­gen« des Abso­lutismus noch in einem tra­di­tionellen Rah­men, wen­ngle­ich die Sta­tis­tik eine erste sys­tem­a­tis­che, quan­ti­ta­tive Erfas­sung der Bevölkerung erlaubte. Eine deut­liche Akzentver­schiebung ergab sich erst mit den Anfang des 19. Jahrhun­derts geführten biopoli­tis­chen Debat­ten. Sie waren von einem aus­ge­sproch­enen Pes­simis­mus geprägt, der sich haupt­säch­lich aus der Angst vor Über­bevölkerung oder Degen­er­a­tion speiste. Erst am Ende des Jahrhun­derts schienen die Ein­sicht­en Dar­wins und Mendels Hand­lungschan­cen in bezug auf eine »Hochzucht« der Men­schheit zu eröff­nen, unter entsprechen­der Nutzung der Macht des mod­er­nen Staates. Das war die Geburtsstunde der »Eugenik«, der ein­flußre­ich­sten biopoli­tis­chen Konzep­tion über­haupt.

Grund­sät­zlich wurde zwis­chen »pos­i­tiv­er« Eugenik, die den gesun­den Nach­wuchs fördern, und »neg­a­tiv­er« Eugenik, die den kranken »aus­merzen« wollte, unter­schieden. Die meis­ten Anhänger – sie reicht­en von der Linken über die Mitte bis zur Recht­en – ver­trat­en allerd­ings eine Mis­chung aus bei­den Konzepten mit je unter­schiedlich­er Akzentset­zung. Das erk­lärt wahrschein­lich auch, warum trotz Diskred­i­tierung durch den Mißbrauch in der NS-Zeit eugenis­che Poli­tikkonzepte nach 1945 in den USA, vor allem in Schwe­den und der Schweiz, aber auch im Ost­block angewen­det wur­den.

Die voll­ständi­ge Äch­tung kon­nte nur durchge­set­zt wer­den, als der Wohlfahrtsstaat eine Phase außeror­dentlich­er Sta­bil­ität durch­lief, die die Gefahr der Über­las­tung der sozialen Sys­teme geban­nt zu haben schien. Fak­tisch wur­den biopoli­tis­che Fra­gen aber nur ver­schoben, nicht etwa erledigt. Man übertrug die Entschei­dung über Fortpflanzung, Gesund­heit­spflege und Altersvor­sorge pro for­ma auf das Indi­vidu­um, entwick­elte aber gle­ichzeit­ig eine sub­tile Pro­pa­gan­da, die deut­lich genug machte, was gesellschaftlich erwün­scht sei: etwa Kinder­losigkeit zwecks Beruf­stätigkeit und die Ver­mei­dung von Behin­dertenge­burten, kaschiert als humane Kon­se­quenz »embry­opathis­ch­er« Diag­nose.

Fak­tisch hat erst die Zeit­gle­ich­heit von demographis­ch­er Krise und Rev­o­lu­tion in der Analyse des men­schlichen Erbgutes die Aktu­al­ität der Biopoli­tik wieder erkennbar wer­den lassen. Allerd­ings wer­den die Debat­ten durch die Vorherrschaft link­er Inter­pre­ta­tion­s­muster, die Verquick­ung mit anderen Fra­gen, vor allem aus dem Kon­text von Fem­i­nis­mus und Geschlechter­poli­tik, belastet. Es gibt jeden­falls bis dato keine Klarheit über den Weg, der zwis­chen ein­er (illu­sionären) biopoli­tis­chen Selb­st­bes­tim­mung und einem (total­itären) biopoli­tis­chen Durch­griff beschrit­ten wer­den kön­nte.

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Zitate:

Wenn die (moralisch-anthro­pol­o­gis­che) Natur­ord­nung sich nicht mehr selb­st garantiert, wenn mit dem Naturhaushalt auch das Natur­recht in die Zone der Krise und damit der Dezi­sion ger­at­en ist, wird buch­stäblich alles möglich.
Rolf Peter Siefer­le

Seit dem Ende des 19. Jahrhun­derts begin­nt sich die soziale Dif­feren­zierung der Frucht­barkeit umzukehren: Die Kinderzahlen wer­den um so niedriger, je höher der soziale Rang oder das Einkom­men ein­er Gesellschaft­sklasse. Da aber sozialer Rang und Intel­li­genz ger­ade in mobilen Gesellschaften in Beziehung zueinan­der ste­hen, sind es nun­mehr die weniger Intel­li­gen­ten, die sich stärk­er ver­mehren.
Ilse Schwidet­zky

 

Lit­er­atur:

  • Eduard Mey­er: Geschichte des Alter­tums [1884], Bd I/1, zulet­zt Essen 1984.
  • Ilse Schwidet­zky: Haupt­prob­leme der Anthro­polo­gie, Freiburg i.Br. 1971.
  • Ilse Schwidet­zky: Das Men­schen­bild der Biolo­gie [1959], zulet­zt Stuttgart 1997.
  • Rolf Peter Siefer­le: Die Krise der men­schlichen Natur, Frank­furt a. M. 1989.
  • Karl­heinz Weiß­mann: Der Nationale Sozial­is­mus. Ide­olo­gie und Bewe­gung 1890–1933, München 1998.