Ritter, Gerhard — Historiker, 1888–1967

Ger­hard Rit­ter war ohne Zweifel die Zen­tralgestalt der deutschen His­to­ri­ogra­phie in den bei­den ersten Nachkriegs­jahrzehn­ten und gle­ichzeit­ig der Garant ihrer – gemäßigt – kon­ser­v­a­tiv­en Aus­rich­tung. Die Ursache dafür lag ein­mal in dem bedeu­ten­den wis­senschaftlichen Werk, das Rit­ter schon in den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren geschaf­fen hat­te, zum anderen in sein­er moralis­chen Rep­u­ta­tion als Mit­glied des „Freiburg­er Kreis­es“, der zu den Grup­pen des bürg­er­lichen Wider­stands in der NS-Zeit gehörte.

Rit­ter stammte – zusam­men mit seinen Brüdern, dem späteren The­olo­gen Karl Bern­hard, und dem späteren Ori­en­tal­is­ten Hell­mut Rit­ter – aus ein­er hes­sis­chen Pfar­rer- und Beamten­fam­i­lie. Er wurde am 6. April 1888 in Bad Sood­en a. d. Wer­ra geboren. Nach dem Abitur studierte er an den Uni­ver­sitäten München, Hei­del­berg, Leipzig und Berlin Ger­man­is­tik und Geschichte, schloß 1912 mit der Pro­mo­tion ab und unter­richtete für einige Zeit als Gym­nasiallehrer. Der Erste Weltkrieg ver­hin­derte die Fort­set­zung der wis­senschaftlichen Lauf­bahn. Im Feb­ru­ar 1915 einge­zo­gen, diente Rit­ter als Infan­terie­of­fizier, wurde mehrfach ver­wun­det und mit dem Eis­er­nen Kreuz bei­der Klassen aus­geze­ich­net. Nach dem Krieg habil­i­tierte er sich 1921 an der Uni­ver­sität Hei­del­berg, 1924 erhielt er einen Ruf nach Ham­burg, im Fol­ge­jahr nach Freiburg. Dort lehrte er bis zu sein­er Emer­i­tierung 1956.

Rit­ters Dok­torar­beit hat­te Die preußis­chen Kon­ser­v­a­tiv­en und Bis­mar­cks deutsche Poli­tik 1858–1876 behan­delt. Mit dieser The­men­wahl waren auch Schw­er­punk­te sein­er weit­eren wis­senschaftlichen Tätigkeit beze­ich­net: die Entwick­lung Preußens und Preußen-Deutsch­lands seit dem 18. Jahrhun­dert in Verknüp­fung mit der Entste­hung eines deutschen Eigen­be­wußteins, die Bedeu­tung der Staatengeschichte und ihre Erfas­sung in sorgfältiger Quel­len­analyse. Daneben trat dann noch ein Inter­esse an biographis­chen Arbeit­en, das sich in Mono­gra­phien über Luther (zuerst 1925), den Frei­her­rn vom Stein (zuerst 1931), Friedrich den Großen (zuerst 1936) und schließlich den Wider­stand­skämpfer Carl Goerdel­er (zuerst 1954) nieder­schlug, mit dem Rit­ter per­sön­lich befre­un­det gewe­sen war.

Auf­schlußre­ich ist auch, daß Rit­ter bere­its in sein­er Dis­ser­ta­tion eine Analyse des Kon­ser­vatismus lieferte, die mit sein­er eige­nen poli­tis­chen Posi­tions­bes­tim­mung zu tun hat­te. Denn er arbeit­ete hier her­aus, daß der Ver­such, eine prinzip­i­en­feste – und dok­trinäre – Auf­fas­sung des Kon­ser­vatismus zu etablieren, nicht nur zu Wirk­lichkeitsver­lust führte, son­dern auch zu einem Selb­st­wider­spruch, insofern, als das unbe­d­ingte Fes­thal­ten an überkomme­nen Ein­rich­tun­gen und Wertvorstel­lun­gen zwangsläu­fig in deren voll­ständi­ger Zer­set­zung mün­det. Rit­ters Sym­pa­thie gehörte Bis­mar­ck und dessen Vorstel­lung von Realpoli­tik. Das hat ihn wahrschein­lich auch davor bewahrt, nach dem Ende des Kaiser­re­ichs nos­tal­gis­chen Ideen anzuhän­gen. Zwar hielt er an der Über­legen­heit der monar­chis­chen Ver­fas­sung fest, übte auch in den zwanziger Jahren scharfe Kri­tik am Ver­sailler Ver­trag und dem „West­en“, aber man wird Rit­ter trotz­dem den „Ver­nun­ftre­pub­likan­ern“ zuord­nen müssen, die unter den deutschen Hochschullehrern der Zeit eine Mehrheit stell­ten. Beze­ich­nend ist, daß er sich 1929 zum Ein­tritt in die nation­al­lib­erale DVP, nicht in die DNVP, entschloß und danach aktiv für einen – autoritären — Umbau der Ver­fas­sung unter Deck­ung durch den Reich­spräsi­den­ten ein­trat.

Rit­ter hat die Ago­nie von Weimar für zwangsläu­fig gehal­ten. Auch später ver­trat er die Auf­fas­sung, Weimar sei an einem Zuviel, nicht einem Zuwenig, an Demokratie zugrunde gegan­gen. Für das Regime Hitlers hat­te er keine Sym­pa­thie, glaubte aber bis zum Tod Hin­den­burgs an die Möglichkeit, zu „alt­preußis­ch­er Staatlichkeit“ zurück­zukehren und reg­istri­erte anerken­nend die außen­poli­tis­chen Erfolge. Die Ursache sein­er Abwen­dung lag in den anti­semi­tis­chen Maß­nah­men ein­er­seits, in der Radikalisierung des Kirchenkampfs ander­er­seits begrün­det. Rit­ters Buch Macht­staat und Utopie von 1940 kann dur­chaus als zen­trales Werk der „Inneren Emi­gra­tion“ betra­chtet wer­den, insofern als es die – wenn auch ver­schleierte – Gen­er­alkri­tik an ein­er Poli­tik enthielt, die sich wed­er an das über­lieferte antike, noch an das christliche Sit­tenge­setz hal­ten wollte. Es lag insofern in der Logik der Entwick­lung, daß Rit­ter zu den Mitwissern der Umsturz­pläne vom Som­mer 1944 gehörte, noch im Novem­ber des Jahres ver­haftet wurde und bis zum Kriegsende in einem Berlin­er Gefäng­nis blieb.

Sein Anse­hen erlaubte es Rit­ter nach 1945 wesentlich an der Reor­gan­i­sa­tion der (west)deutschen Geschichtswis­senschaft mitzuwirken. Ihm ging es dabei um „Läuterung“, aber auch darum, den ide­ol­o­gis­chen Ein­fluß der Siegermächte zurück­zudäm­men. Zwis­chen 1948 und 1953 fungierte er als erster Vor­sitzen­der des His­torik­erver­ban­des, außer­dem sorgte er für den Wieder­auf­bau des Geschicht­slehrerver­ban­des. Rit­ter war davon überzeugt, daß nur ein echt­es Geschichts­be­wußt­sein helfen könne, die notwendi­ge Regen­er­a­tion her­beizuführen. Aus­drück­lich lehnte er die Kollek­tivschuldthese und die Annahme eines deutschen Son­der­wegs ab. Wie er in seinem Buch Europa und die deutsche Frage (1948) dar­legte, war der Nation­al­sozial­is­mus nicht das Ergeb­nis spez­i­fisch deutsch­er Bedin­gun­gen, son­dern eine Folge des Massen­zeital­ters in der Kon­se­quenz der Franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion. Die in dieser Anschau­ung schon enthal­tene Vertei­di­gung der Entwick­lung Deutsch­lands unter preußis­ch­er Führung ent­fal­tete er dann noch ein­mal in seinem Spätwerk Staatskun­st und Kriegshandw­erk (1954–1968), das sich mit dem Prob­lem des „Mil­i­taris­mus“ auseinan­der­set­zte.

Diese mon­u­men­tale Arbeit liest sich in ihren let­zten Teilen auch wie eine Stel­lung­nahme Rit­ters zur soge­nan­nten „Fis­ch­er-Kon­tro­verse“ über die Rolle des Reichs im Ersten Weltkrieg. In seinen let­zten Leben­s­jahren machte Rit­ter noch ein­mal seinen ganzen Ein­fluß gel­tend, um jene „Ver­schat­tung“ der deutschen Geschichte zu ver­hin­dern, die das geistige Leben der Bun­desre­pub­lik seit den 1960er Jahren zu bes­tim­men anf­ing. Allerd­ings stand er dabei schon fast allein, hat­te jeden­falls zu wenige Ver­bün­dete, um noch entschei­den­des zu erre­ichen.

Ger­hard Rit­ter ver­starb am 1. Juli 1967 in Freiburg i. Br.

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Zitat:

Jed­er Patri­o­tismus ist hohl, ist unecht, der die sehr harten und sehr ver­wick­el­ten Wirk­lichkeit­en des mod­er­nen Staates umge­ht, statt sie zu meis­tern mit strengem poli­tisch-tech­nis­chem Sachver­stand.

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Schriften:

  • Die preußis­chen Kon­ser­v­a­tiv­en und Bis­mar­cks deutsche Poli­tik 1858–76, Hei­del­berg 1913
  • Luther. Gestalt und Sym­bol, München 1925
  • Stein. Eine poli­tis­che Biogra­phie, 2 Bde, Stuttgart 1931
  • Friedrich der Große, Leipzig 1936
  • Macht­staat und Utopie, München 1940 (ab 1947 unter dem Titel „Die Dämonie der Macht“)
  • Die Weltwirkung der Ref­or­ma­tion, Leipzig 1941
  • Geschichte als Bil­dungs­macht, Stuttgart 1946
  • Vom sit­tlichen Prob­lem der Macht, Bern 1948
  • Die Neugestal­tung Deutsch­lands und Europas im 16. Jahrhun­dert, Berlin (West) 1950
  • Carl Friedrich Goerdel­er und die deutsche Wider­stands­be­we­gung, Stuttgart 1954
  • Der Schli­ef­fen­plan. Kri­tik eines Mythos. Mit erst­ma­liger Veröf­fentlichung der Texte, München 1956
  • Staatskun­st und Kriegshandw­erk. Das Prob­lem des „Mil­i­taris­mus“ in Deutsch­land, 4 Bde, Stuttgart 1954–1968

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Lit­er­atur:

  • Ulrich Bay­er: Ger­hard Rit­ter (1888–1967), in: Johannes Ehmann (Hrsg.): Lebens­bilder aus der evan­ge­lis­chen Kirche in Baden im 19. und 20. Jahrhun­dert. Band II: Kirchen­poli­tis­che Rich­tun­gen, Hei­del­berg 2010
  • Christoph Cor­nelißen: Ger­hard Rit­ter. Geschichtswis­senschaft und Poli­tik im 20. Jahrhun­dert, Düs­sel­dorf 2001