Königsberg — Ostpreußen

Kaum noch erin­nern Baut­en oder Straßen­züge an sieben Jahrhun­derte, ver­loren ste­ht der wieder­aufge­baute Dom, ohne (sich) ein­fü­gen­den Bezug. Und doch – der alte Name wirkt, Mythos, (ver)störenden Gedanken gle­ich, am Ort; ließ den Ver­such, eine Zukun­ft ohne Ver­gan­gen­heit zu bauen, scheit­ern.

Das von Immanuel Kant als »schick­lich­er Platz zu Erweiterung sowohl der Men­schenken­nt­nis als auch der Weltken­nt­nis« beschriebene geistig-kul­turelle Königs­berg tritt in immer  umfan­gre­icher­er Forschung auf uns zu, seine Geschichte und sein Unter­gang weck­en unge­brochen grundle­gende Fra­gen. Und selb­st das Bild Königs­bergs in sein­er grün­derzeitlich let­zten Gestalt fasziniert inmit­ten der Trost- und Belan­glosigkeit sow­jetis­chen und nun »kap­i­tal­is­tis­chen« Bauens auf staunen­erre­gende Art, beflügelt Wieder­auf­bauideen, und mehr und mehr schiebt sich die Ver­gan­gen­heit nicht allein durch große Fotografien ins Straßen­bild Kalin­ingrads, so als stünde die Alt­stadt noch, die Giebel­häuser am Dom, die alte Uni­ver­sität, – das Schloß, mit dem alles begann.

1255 zog ein Heer des Deutschen Ordens unter Führung des böh­mis­chen Königs Ottokar II. von der Weich­sel Rich­tung Nor­dosten. Die Unter­w­er­fung des prußis­chen Gaus Sam­land gelang. An der Stelle der Feste Tuwang­ste wurde eine Burg gegrün­det, die zu Ehren des Böh­men den Namen »Königs­berg« erhielt. Schnell baute der Orden diese zum Ver­wal­tungsmit­telpunkt des noch zu erobern­den östlichen Prußen­lan­des aus, und als­bald erwuch­sen in ihrem Schutz drei, 1724 zusam­menge­faßte Städte: Alt­stadt, Löbenicht und – vom Pregel umflossen – der Kneiphof.

Als Sitz des Ober­sten Marschalls, des Heer­führers des Ordens, erfol­gte von 1312 bis zur Mitte des Jahrhun­derts der Aus­bau der Burg zu ein­er der ele­gan­testen spät­go­tis­chen Anla­gen Nor­dos­teu­ropas, in der sich über Jahrzehnte Fürsten und Rit­ter ganz Europas zu Kriegszü­gen ins hei­d­nis­che Litauen trafen, darunter Karl (IV.) von Lux­em­burg (žKarl­stein, Prag), später römisch-
deutsch­er Kaiser.

Mit dem Ver­lust der Marien­burg 1457 und der Über­sied­lung der Hochmeis­ters nach Königs­berg wurde die Stadt zur Kap­i­tale des noch dem Orden verbliebe­nen Staates. Ihren erneut geistig-kul­turellen Auf­stieg erlebte sie unter dem 1511 aus Franken berufe­nen Hochmeis­ter Mark­graf Albrecht von Bran­den­burg-Ans­bach. Er kon­nte 1525 sein geschwächt­es Land nach Gesprächen
mit Mar­tin Luther (žžWart­burg, Wit­ten­berg) und mit Ein­ver­ständ­nis seines Onkels, des pol­nis­chen Königs, in ein weltlich­es Her­zog­tum umwan­deln. Preußen wurde der erste protes­tantis­che Staat. Die pol­nis­che Lehn­shoheit bedeutete zwar macht­poli­tis­chen Ver­lust, aber der fol­gende über hun­dertjährige Friede ermöglichte in enger Verbindung mit den süd­deutschen Reich­s­lan­den, vor allem Nürn­berg, sowie mit Däne­mark, den Nieder­lan­den und Ital­ien den Anschluß an die Renais­sance.

Durch die 1544 gegrün­dete Uni­ver­sität wurde Königs­berg zu einem weit in den Osten Europas ausstrahlen­den geisti­gen Zen­trum, mit bedeu­ten­der Bib­lio­theks- und Ver­lags­land­schaft, und ähn­lich Sach­sen zu ein­er Hochburg geistlich­er Musik. 1618 kam es durch Erb­fall zur Per­son­alu­nion Bran­den­burg-Preußens unter den bran­den­bur­gis­chen Kur­fürsten, die sich stets auch in ihrem östlichen, nicht vom Dreißigjähri­gen Krieg (Schwei­d­nitz) berührten Land aufhiel­ten. Königs­berg erlebte eine Blüte der  Barock­dich­tung, ver­bun­den mit dem Namen Simon Dach. Als der Große Kur­fürst Preußen 1657 von der pol­nis­chen Lehn­shoheit befre­ite, schuf er die Grund­la­gen für den Erwerb der Königswürde durch seinen Sohn Friedrich III.

Die Selb­stkrö­nung am 18. Jan­u­ar 1701 in Königs­berg ist ein­er der hohen Tage der Geschichte jenes Staates, der nun­mehr den Namen seines östlichen Lan­des annahm: Preußen. Sei­ther kün­st­lerisch und poli­tisch hin­ter Berlin zurück­fal­l­end, blieb die zweite Res­i­denz eine Stadt des Geistes: Von hier zogen die ost­preußis­chen Denker Gottsched, Hamann und Herder in die Welt hin­aus, von hier wirk­te der Philosoph Immanuel Kant – seine Geburtsstadt nie ver­lassend – mit seinem bis heute ein­flußre­ichen Denken.

Ein­mal noch wurde Königs­berg Zen­trum des preußis­chen Staates, als sich zwis­chen 1806 und 1809 der vor Napoleon (žžWater­loo) geflo­hene Hof Friedrich Wil­helms III. und der Köni­gin Luise hier aufhielt. Die Stadt wurde zum Aus­gang­sort des inner­staatlichen Befreiungswerkes der Stein-Hard­en­bergschen Refor­men, und 1813 nahm durch Gen­er­al Yor­cks Aufruf an die preußis­chen Stände (žTau­roggen) auch die äußere Befreiung Deutsch­lands und Mit­teleu­ropas von Königs­berg ihren Anfang.

Es hieße viele Namen nen­nen, wollte man die Weite dieser »Welt­bürg­er­re­pub­lik« (Man­they) beschreiben: E. T. A. Hoff­mann, Joseph Frei­herr von Eichen­dorff, Hein­rich von Kleist, Richard Wag­n­er (žBayreuth), Käthe Koll­witz, Agnes Miegel, August Win­nig und Ernst Wiechert – oder Kon­rad Lorenz, Arnold Gehlen, Hans Roth­fels und Han­nah Arendt.

Möge diese Auswahl genü­gen, um zu ver­ste­hen, daß heute, da alles Noch-so-Ferne der Ein­mis­chung unter­wor­fen wird, die Nen­nung dieses »deutschen Ortes« ger­adezu nahe­liegt. Das Schick­sal Königs­bergs läßt keinen, der den Ort betritt, unberührt, ist des Nach­denkens wert. Aus­ge­bran­nt beim britis­chen Bombe­nan­griff 1944, zer­schossen bei den schw­eren Kämpfen 1945, schließlich, nach Vertrei­bung der nach Kriegsende noch verbliebe­nen Deutschen, weit­ge­hend abgeräumt für einen sow­jetis­chen Auf­bau, zeigt diese Stadt, daß durch die bewußt gewollte, ide­ol­o­gisch motivierte Zer­störung ganz­er Städte und bedeu­ten­der Kunst­werke nicht nur dem unmit­tel­bar betrof­fe­nen Volk sein schöpferisches Erbe und dem Ort das Wesentliche sein­er kul­turellen Iden­tität genom­men wird, son­dern der Men­schheit schlechthin ein Teil ihres vielgestalti­gen kün­st­lerischen Reich­tums. Dessen müssen wir gewahr sein, wenn wir die  unge­brem­ste Ver­nich­tung von Kul­tur­land­schaften nicht nur im nördlichen Ost­preußen hin­nehmen. Hier, inmit­ten Europas, zeigt sich ein Ort, der aus seinen kul­turgeschichtlichen Bezü­gen her­aus­geris­sen wurde, das heißt an dem sich Gotik, Renais­sance, Barock kaum mehr find­en.

Doch leis­tet der Mythos »Königs­berg« Wider­stand, drängt zur geisti­gen Wieder­an­bindung. Diese schließt die Wiederfind­ung ein­er Gestalt, die der Ver­gan­gen­heit gemäß ist, ein. Auf­gaben, die in der Geschichte des Lan­des nicht neu sind, Auf­gaben für Gen­er­a­tio­nen – nicht nur hier. Los­gelöst von der Frage des Gelin­gens birgt Königs­berg Kants bleiben­den Aufruf an uns: »Sapere aude!«, der unver­lier­bar über Ort und Zeit hin­aus­trägt.

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Lit­er­atur:

  • Klaus Gar­ber: Das alte Königs­berg, Köln/Weimar/Wien 2008
  • Fritz Gause: Die Geschichte der Stadt Königs­berg in Preußen. 3 Bde., Köln/Graz 1965/1968/1971
  • Bern­hart Jäh­nig (Hrsg.): 750 Jahre Königs­berg, München 2008
  • Jür­gen Man­they: Königs­berg, Geschichte ein­er Welt­bürg­er­re­pub­lik, München/Wien 2005
  • Chris­t­ian Papen­dick: Der Nor­den Ost­preußens, Husum 2009
  • Max Popov: Par­al­lel mem­o­ry, 150 years of Königs­berg and Kalin­ingrad his­to­ry in pho­tographs, Kalin­ingrad 2012
  • Wulf D. Wag­n­er: Das Königs­berg­er Schloß, 2 Bde., Regens­burg 2008/2011