Arendt, Hannah, Philosophin, 1906–1975

Am 14. Okto­ber in Han­nover 1906 geboren und in einem assim­i­lierten deutsch-jüdis­chen Eltern­haus in Königs­berg aufgewach­sen, erhielt die sich selb­st »das Mäd­chen aus der Fremde« nen­nende Arendt ihre wichtig­ste geistige Prä­gung durch ihre Mar­burg­er und Hei­del­berg­er Lehr­jahre bei Mar­tin Hei­deg­ger und Karl Jaspers. 1933 von den Nation­al­sozial­is­ten ver­haftet, gelang ihr die Flucht zunächst nach Frankre­ich und sodann in die Vere­inigten Staat­en, welche der Emi­gran­tin 1951 die Staats­bürg­er­schaft zuerkan­nten. Bis zu ihrem Tode lebte und wirk­te Arendt als Pro­fes­sorin und Pub­lizistin vor­rangig in den USA, nicht ohne immer wieder in ihre ver­traute und doch fremd gewor­dene europäis­che Heimat zurück­zukehren. Obgle­ich eine emanzip­ierte und irre­ligiöse Jüdin, hat Arendt sich stets zu ihrem jüdis­chen Schick­sal als »Paria« bekan­nt und die ihr Ander­s­sein ver­leug­nen­den jüdis­chen »Par­venüs« als Masken­spiel­er ver­achtet.

Han­nah Arendt ver­stand sich als poli­tis­che The­o­retik­erin und lehnte den Titel der Philosophin dank­end ab, da sie die abendländis­che Philoso­phiegeschichte von ein­er fortschre­i­t­en­den »Poli­tikvergessen­heit« bes­timmt sah. In ihrem gle­ich­wohl philosophis­chen Hauptwerk, Vita acti­va (1960), stil­isiert sie den Prozeß des Sokrates zum sin­n­fäl­li­gen Ursprung des Kon­flik­ts zwis­chen der unterge­hen­den Polis und der auf­streben­den Philoso­phie. Die seit Pla­ton in der griechis­chen Antike zum höch­sten Ide­al erhobene »vita con­tem­pla­ti­va« sollte im christlichen Mit­te­lal­ter noch eine spir­i­tu­al­is­tis­che und antipoli­tis­che Über­steigerung erfahren.

Wenn Aris­tote­les auch das eines freien Mannes einzig würdi­ge »Han­deln« gegenüber der sklavis­chen »Arbeit« und dem handw­erk­lichen »Her­stellen« her­aus­gestellt hat­te, so zog doch die lateinis­che Fehlüber­set­zung des »bios poli­tikos« als »vita socialis« die Entwer­tung des aktiv­en poli­tis­chen Han­delns zu einem pas­siv­en sozialen Ver­hal­ten nach sich, welch­es es zu normieren und zu kon­trol­lieren galt. Vol­lends mit dem mod­er­nen Tri­umph der dem Reich der Notwendigkeit ver­hafteten Arbeit über das gemein­same Han­deln der Frei­heit verpflichteter Men­schen vol­l­zog sich eine radikale Umw­er­tung der antiken Werthier­ar­chie zwis­chen »polis« und »oikos«. Die Kolo­nial­isierung der poli­tis­chen Lebenswelt durch ökonomisch deter­minierte soziale Sys­teme machte schließlich noch die eigentlich poli­tis­che Unter­schei­düng zwis­chen dem Öffentlichen und dem Pri­vat­en selb­st unken­ntlich.

Unter Beru­fung auf Augusti­nus, über dessen Liebes­be­griff sie pro­movierte, set­zt Arendt dem philosophis­chen Flucht­punkt der »Mor­tal­ität«, der Endlichkeit des Men­schen, das poli­tisch bedeut­samere Fak­tum seines Geboren­seins, seine »Natal­ität«, ent­ge­gen: die Fähigkeit, jed­erzeit einen Neuan­fang set­zen zu kön­nen, um als freies Wesen gle­ich­sam seine zweite Geburt zu erfahren. So ist Arendts Men­sch, gut exis­ten­tial­is­tisch, zur Frei­heit verurteilt, aber diese ver­wirk­licht sich authen­tisch wed­er in pri­vat­en Hob­bys noch in philosophis­chen Monolo­gen, son­dern allein im plu­ral­is­tis­chen Miteinan­der eines per­spek­tivisch offe­nen Sprechens und spon­ta­nen Han­delns, welch­es die »res pub­li­ca« zur eige­nen Sache macht. His­torisch erschloß sich der eigen­willi­gen Schü­lerin Hei­deg­gers dieses Wesen des Poli­tis­chen exem­plar­isch in der vom griechis­chen Geist noch unberührten römis­chen Repub­lik, und dieses Erbe schienen ihr die repub­likanis­chen Nation­al­staat­en des neuzeitlichen Europa zu bewahren.

In ihrem poli­tol­o­gis­chen Hauptwerk, Ele­mente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955), hinge­gen zeich­net Arendt mit phänom­e­nol­o­gis­chem Scharf­blick die spätere impe­ri­al­is­tis­che Selb­stüber­schre­itung der europäis­chen Nation­al­staat­en sowie die anti­semi­tis­che und ras­sis­tis­che Selb­stzer­störung ihres tra­di­tionellen Patri­o­tismus nach. In der Weltkriegspe­ri­ode schließlich sah sie die vere­in­samten und entwurzel­ten Indi­viduen der lib­eralen Mas­sen­ge­sellschaften total­itären Bewe­gun­gen anheim­fall­en, die mit der ver­al­teten Staats­form auch das über­flüs­sig gewor­dene Men­schen­ma­te­r­i­al durch Pro­pa­gan­da und Ter­ror ein­er »per­ma­nen­ten Rev­o­lu­tion« unter­war­fen. Das Schick­sal der Lagerin­sassen totaler Herrschaftssys­teme, aber auch der Sta­tus Staat­en- und recht­los­er Flüchtlinge offen­barten ihr die epochale Ver­lassen­heit des mod­er­nen Men­schen und den fik­tiv­en Charak­ter der uni­ver­salen Men­schen­rechte.

Als jour­nal­is­tis­ches Gegen­stück zu ihrer Total­i­taris­musstudie imponiert der Bericht über Eich­mann in Jerusalem (1964). Die Formel von der »Banal­ität des Bösen«, die sich Arendt durch Eich­manns Auftreten während des Prozess­es auf­drängte und die vielfach als dessen Ver­harm­lo­sung mißver­standen wurde, zielte vielmehr auf das Unfaßbare, daß die schlimm­sten Tat­en ger­ade von einem Durch­schnitts­bürokrat­en ohne alle Dämonie organ­isiert wer­den kon­nten. Als skan­dalös wurde ins­beson­dere Arendts Hin­weis auf die Mit­täter­schaft der Juden­räte bei der Juden­ver­nich­tung emp­fun­den, obgle­ich sich für sie in dieser Per­ver­sion nur die zynis­che Effek­tiv­ität der total­itären Enthu­man­isierung selb­st zeigte. Auf das Prob­lem des Bösen sollte Arendt noch ein­mal in ihrem Spätwerk Vom Leben des Geistes (1979) zurück­kom­men, worin sie in sokratis­ch­er wie kan­tis­ch­er Tra­di­tion zu begrün­den sucht, daß nur ein Denken mit entwick­el­ter Urteil­skraft vor solchem radikal oder banal bösen Han­deln bewahren könne.

Nach Maß­gabe ihrer poli­tis­chen und ethis­chen Ide­ale mußte Arendt die Apathie und Dekadenz der Massen in den west­lichen Arbeits- und Kon­sumge­sellschaften der Nachkriegszeit zunehmend als desil­lu­sion­ierend erfahren, und so suchte sie kon­se­quent nach Mit­teln und Wegen zur »Zer­schla­gung der Mas­sen­ge­sellschaft«. Stimmte sie in Vita acti­va für eine poli­tis­che Aris­tokratie elitär­er Repub­likan­er, so warb sie in ihrer Studie Über die Rev­o­lu­tion (1963) für die direk­te Demokratie ein­er egal­itären Rätere­pub­lik. Die Orig­i­nal­ität ihres anti­repräsen­ta­tiv­en Demokratiekonzepts erweist sich vor allem darin, daß sich dieses nicht an der durch ihre ter­ror­is­tis­chen Exzesse kom­pro­mit­tierten franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion (und deren rus­sis­ch­er Fort­set­zung) ori­en­tiert, son­dern an der gewalt­losen amerikanis­chen Rev­o­lu­tion, deren »town hall meet­ings« von der kon­struk­tiv­en Idee eines gemein­samen Neuan­fangs bes­timmt waren. Entsprechend charak­ter­isiert Arendt die Vere­inigten Staat­en als »das kühn­ste Unter­fan­gen der Europäer, den antiken Polis­gedanken mit dem rev­o­lu­tionären Grün­dungsakt ein­er mod­er­nen Repub­lik zu verknüpfen«.

Han­nah Arendts poli­tis­che Philoso­phie hat zwar nicht schul­bildend gewirkt, aber dafür diverse sub­ku­tane Wirkun­gen ent­fal­tet. Ihre Total­i­taris­mus­the­o­rie erwarb rasch den Rang eines Klas­sik­ers, und ihr Repub­likanis­muskonzept inspiri­erte die aktuellen Debat­ten über Kom­mu­ni­taris­mus, Bürg­er- und Zivilge­sellschaft. Obgle­ich sie selb­st mit den poli­tis­chen Kat­e­gorien »rechts« und »links« nichts anfan­gen kon­nte, läßt sich als gen­uin kon­ser­v­a­tives Leit­mo­tiv des Arendtschen Denkens die Wieder­her­stel­lung des legit­i­men Pri­mats des Poli­tis­chen gegenüber der fak­tis­chen Dom­i­nanz des Ökonomis­chen und Sozialen anführen.

Arendt starb am 4. Dezem­ber 1975 in New York.

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Zitat:

Manch­mal frage ich mich, was wohl schwieriger ist, den Deutschen einen Sinn für Poli­tik oder den Amerikan­ern einen leicht­en Dun­st auch nur von Philoso­phie beizubrin­gen.

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Schriften:

  • Ele­mente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frank­furt a. M. 1955
  • Vita acti­va oder Vom täti­gen Lehen, Stuttgart 1960
  • Über die Rev­o­lu­tion, München 1963
  • Eich­mann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banal­ität des Bösen, München 1964
  • Vom Leben des Geistes, München 1979

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Lit­er­atur:

  • Sey­la Ben­hab­ib: Han­nah Arendt. Die melan­cholis­che Denkerin der Mod­erne, Ham­burg 1998
  • Elis­a­beth Young-Bruehl: Han­nah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frank­furt a. M. 2000