Nolte, Ernst, Historiker, 1923–2016

Ernst Nolte wurde am 11. Jan­u­ar 1923 in Wit­ten (an der Ruhr) geboren. Mit dem Namen Ernst Noltes verbindet sich eine einzi­gar­tige his­torische Durch­dringung des „Faschis­mus in sein­er Epoche“, aber auch jene als „His­torik­er­stre­it“ fir­mierende geschicht­spoli­tis­che Kon­tro­verse, die sei­ther eine unbe­fan­gene Sicht auf das imposante Lebenswerk ver­stellt hat. Im Zen­trum des Nolteschen Geschichts­denkens, welch­es bei aller wis­senschaftlichen Solid­ität nicht zulet­zt durch seine philosophis­chen Valen­zen besticht, ste­ht jedoch unbe­stre­it­bar der Nation­al­sozial­is­mus.

Immer­hin fie­len Noltes Kind­heit­s­jahre mit denen der nation­al­sozial­is­tis­chen Bewe­gung weit­ge­hend zusam­men, und die frühe Erfahrung, in einem Zeital­ter großer ide­ol­o­gis­ch­er Auseinan­der­set­zun­gen zu leben, sollte für sein Denken weg­weisend sein. War zunächst ein großdeutsch­er Katholizis­mus paz­i­fistis­ch­er Prä­gung „die geistige Welt, in der ich aufgewach­sen war“, so wurde für den Freiburg­er Stu­den­ten die Begeg­nung mit Mar­tin Hei­deg­ger bes­tim­mend, dessen philosophis­che Lehre ihm das geläuterte Erbe nicht nur des Katholizis­mus, son­dern der abendländis­chen Meta­physik ins­ge­samt anzutreten schien.

Während der Kriegs­jahre allerd­ings emp­fand Nolte das unver­di­ente Priv­i­leg, studieren zu dür­fen, während die Schulka­m­er­aden an allen Fron­ten kämpften und sein jün­ger­er Brud­er in der Nähe von Sedan fiel, als eine schwere Last, die er for­t­an durch die selb­staufer­legte Verpflich­tung zur geisti­gen Auseinan­der­set­zung mit den tief­er­en Ursachen der deutschen Katas­tro­phe abzu­tra­gen suchte. So betrieb Nolte nach Kriegsende — neben sein­er reg­ulären Tätigkeit als Gym­nasiallehrer für Deutsch und alte Sprachen — umfan­gre­iche zeit­geschichtliche Stu­di­en, als deren Ergeb­nis er 1963 seine grundle­gende Arbeit Der Faschis­mus in sein­er Epoche präsen­tierte, mit der er sich an der Uni­ver­sität Köln habil­i­tierte. Von 1965 ab lehrte Nolte an der Uni­ver­sität Mar­burg Neuere Geschichte, bis er 1973 an die Freie Uni­ver­sität Berlin berufen wurde, wo er bis zu sein­er Emer­i­tierung im Jahre 1991 wirken sollte. Zwis­chen­zeitlich führten ihn zahlre­iche Gas­taufen­thalte nach Hol­land, Eng­land, Frankre­ich, USA, Israel und nicht zulet­zt nach Ital­ien, welch­es für den Wahlber­lin­er gle­ich­sam zur zweit­en Heimat gewor­den ist.

Der Faschis­mus in sein­er Epoche bildete den Grund­stein für Noltes eben­so eigen­ständi­gen wie eigen­willi­gen Denkweg. Alle Leit­mo­tive, die in späteren Werken weit­er­en­twick­elt und abge­wan­delt wer­den, find­en sich hier bere­its keimhaft angelegt. Mit sein­er europäis­chen Gen­er­al­isierung des Begriffs Faschis­mus und dessen ide­olo­giehis­torisch­er Def­i­n­i­tion als Anti­marx­is­mus eröffnete Nolte eine neue wis­senschaftliche Per­spek­tive ver­gle­ichen­der Forschung, und mit sein­er Veror­tung ins­beson­dere der radikalfaschis­tis­chen Ide­olo­gie des Nation­al­sozial­is­mus in der franzö­sis­chen Tra­di­tion der Gegen­rev­o­lu­tion wiederum über­wand er das neg­a­tiv nation­al­is­tis­che Par­a­dig­ma des deutschen Son­der­wegs.

In den fol­gen­den Büch­ern Deutsch­land und der Kalte Krieg (1974) und Marx­is­mus und Indus­trielle Rev­o­lu­tion (1983) faßte Nolte sodann das welth­is­torische Nach­spiel sowie die ide­olo­giehis­torische Vorgeschichte der faschis­tis­chen Epoche in den Blick. So run­de­ten sich die ersten großen Werke zu ein­er Trilo­gie, die nicht weniger bot als „eine Geschichte der Entste­hung, des Prak­tis­chw­er­dens und des Scheit­erns der großen mod­er­nen Ide­olo­gien“.

Stets hat Nolte sich von Ide­olo­gien als den tief­sten bewe­gen­den Kräften der Geschichte fasziniert gezeigt. Daß sich ihm als Grund­fig­ur aller his­torischen Dynamik immer mehr das dialek­tis­che Wech­sel­spiel von „link­er“ oder rev­o­lu­tionär­er Her­aus­forderung und „rechter“ oder gegen­rev­o­lu­tionär­er Erwiderung auf­drängte, mußte schließlich zu ein­er Revi­sion sein­er eurozen­trisch selb­st­be­zo­ge­nen Deu­tung des Faschis­mus führen, welchen es nun­mehr in den welth­is­torischen Bezug zum Kom­mu­nis­mus als sein­er con­di­tio sine qua non zu set­zen galt.

Diesen Per­spek­tiven­wech­sel strengte Nolte in seinem umstrit­ten­sten Werk Der europäis­che Bürg­erkrieg 1917–1945. Nation­al­sozial­is­mus und Bolschewis­mus (1987) an, worin er jene his­torische Grund­di­alek­tik an diesen bei­den total­itären Ide­olo­gien exem­pli­fizierte, welche durch einen „kausalen Nexus“ miteinan­der ver­bun­den seien und somit in „feindlich­er Nähe“ zueinan­der stün­den. An Noltes Zus­pitzung dieses The­o­rems auf das Ver­hält­nis zwis­chen „Gulag“ und „Auschwitz“ entzün­dete sich der His­torik­er­stre­it, obgle­ich Nolte ger­ade auf­grund seines Ver­gle­ichs des rus­sis­chen „Orig­i­nals“ (der sozialen Klassen­ver­nich­tung) mit der deutschen „Kopie“ (der biol­o­gis­chen Rassen­ver­nich­tung) zur Diag­nose der Einzi­gar­tigkeit des Holo­caust gelangte. Seine bedeut­sam­ste konzep­tionelle Neuerung bestand indessen in der Entwick­lung ein­er his­torisch-genetis­chen Total­i­taris­mus­the­o­rie, die sich als eine Syn­these aus der his­torischen Faschis­mus- und der struk­turellen Total­i­taris­mus­the­o­rie darstellt.

Das Erscheinen sein­er Stre­it­punk­te (1993), in denen Nolte sich pro­gram­ma­tisch mit revi­sion­is­tis­chen Posi­tio­nen der Geschichtswis­senschaft auseinan­der­set­zte, ließ ihn hierzu­lande vol­lends zur per­sona non gra­ta wer­den. In geistiger Vere­in­samung schrieb er sein nicht nur an Umfang reich­es Spätwerk His­torische Exis­tenz (1998), welch­es noch ein­mal alle großen Leit­mo­tive seines Denkens zu uni­ver­sal­his­torisch­er Ent­fal­tung brachte, nicht ohne ihnen einen philosophisch-anthro­pol­o­gis­chen Res­o­nanz­bo­den zu ver­schaf­fen.

Eine neuer­liche Per­spek­tiven­er­weiterung sollte Nolte mit seinem gegen­warts­be­zo­ge­nen Buch Die dritte radikale Wider­stands­be­we­gung: Der Islamis­mus (2009) vornehmen, bevor er als sein „let­ztes Wort“ schließlich Späte Reflex­io­nen (2011) pub­lizierte, die the­ma­tisch um Juden­tum und Zion­is­mus kreisen und sich wie ein pointiertes Resümé all sein­er revi­sion­is­tis­chen The­sen und Ten­den­zen aus­nehmen.

Wen­ngle­ich Noltes Denken eine zunehmend kon­ser­v­a­tive Entwick­lung mit zuweilen radikal recht­en Parteinah­men durch­laufen hat, ste­ht sein geistiger Kon­ser­vatismus doch nur sekundär für eine poli­tis­che Hal­tung; primär kommt ein alt­modisch anmu­ten­des Pathos der Dis­tanz darin zum Aus­druck, welch­es Nolte stets als eine unab­d­ing­bare Voraus­set­zung aller Wis­senschaft behauptet und gegen poli­tisierende Zudringlichkeit­en vertei­digt hat. Immer­hin wird die philosophis­che Spannbre­ite seines Geschichts­denkens von den Eck­steinen Marx und Niet­zsche markiert. Nolte selb­st bekan­nte, es gebe in seinem Werk eben­so viele linke wie rechte The­sen, und damit ste­he er „gle­ich­sam zwis­chen den Fron­ten, wo es nicht eben behaglich ist“.

Als kon­ser­v­a­tiv­er Lib­eraler Nolte hat immer wieder die Frei­heit des Men­schen und die Offen­heit der Geschichte betont, aber am inten­sivsten sollte er sich doch an den tragis­chen Auswe­glosigkeit­en und katas­trophis­chen Ein­brüchen der his­torischen Exis­tenz des Men­schen abar­beit­en, ohne daß er sich als nachge­boren­er His­torik­er ein ein­deutiges moralis­ches Urteil ges­tat­tet hätte. Ger­ade die pro­fun­den Ambivalen­zen seines vielschichti­gen Lebenswerkes stellen eine uner­schöpfliche und alle­mal bere­ich­ernde Her­aus­forderung zum Nach­denken über Geschichte dar.

Nolte starb am 18. August 2016 in Berlin.

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Zitat:

Für mich war der Nation­al­sozial­is­mus der stärk­ste Anstoß zum Nach­denken, den es in meinem Leben gegeben hat.

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Schriften:

  • Der Faschis­mus in sein­er Epoche, München 1963
  • Deutsch­land und der Kalte Krieg, München 1974
  • Marx­is­mus und Indus­trielle Rev­o­lu­tion, Stuttgart 1983
  • Der europäis­che Bürg­erkrieg 1917–1945. Nation­al­sozial­is­mus und Bolschewis­mus, München 1987
  • Stre­it­punk­te. Heutige und kün­ftige Kon­tro­ver­sen um den Nation­al­sozial­is­mus, Frank­furt  a.M. 1993
  • His­torische Exis­tenz. Zwis­chen Anfang und Ende der Geschichte?, München 1998

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Lit­er­atur:

  • Siegfried Ger­lich: Ernst Nolte. Por­trait eines Geschichts­denkers, Schnell­ro­da 2009
  • Volk­er Kro­nen­berg: Ernst Nolte und das total­itäre Zeital­ter. Ver­such ein­er Ver­ständi­gung, Bonn 1999
  • Welt­bürg­erkrieg der Ide­olo­gien. Antworten an Ernst Nolte, hrsg. von Thomas Nipperdey/Anselm Doer­ing-Man­teuf­fel/Hans-Ulrich Thamer, Frank­furt a.M./Berlin 1993