Lorenz, Konrad — Verhaltensforscher, 1903–1989

Kon­rad Lorenz gehört zu den Begrün­dern der Etholo­gie, der ver­gle­ichen­den Ver­hal­tens­forschung. Er wider­legte durch seine Forschungsar­beit die behav­ior­is­tis­che Vorstel­lung von der nahezu unbeschränk­ten Form­barkeit des Men­schen und trug maßge­blich zur Ver­bre­itung biol­o­gis­ch­er Erken­nt­nisse über die Natur des Men­schen bei. Zugle­ich war er ein bedeu­ten­der kon­ser­v­a­tiv­er Zeitkri­tik­er.

Der am 7. Novem­ber 1903 in Altenberg bei Wien als Sohn eines renom­mierten Auge­narztes geborene Kon­rad Lorenz hat­te seit sein­er Kind­heit das Ver­hal­ten von Tieren beobachtet. Nach dem Medi­zin- und Zoolo­gi­es­tudi­um, der Pro­mo­tion und weg­weisenden tierpsy­chol­o­gis­chen Pub­lika­tio­nen erhielt er 1940 in Königs­berg einen Lehrstuhl für Psy­cholo­gie. Aus der Kriegs­ge­fan­gen­schaft heimgekehrt, begrün­dete er 1949 in Altenberg in Niederöster­re­ich sein erstes Ethol­o­gis­ches Insti­tut. Seit 1954 forschte und lehrte er am Max-Planck-Insti­tuts für Ver­hal­tensphys­i­olo­gie im ober­bay­erischen Seewiesen, von 1961 bis 1973 als dessen Leit­er. Nach sein­er Emer­i­tierung 1973 leit­ete er wieder die Forschungssta­tion in Altenberg. 1973 erhielt Kon­rad Lorenz zusam­men mit Niko Tin­ber­gen und Karl von Frisch den Nobel­preis für Medi­zin und Phys­i­olo­gie.

Kon­rad Lorenz erkan­nte als ein­er der ersten, daß das Ver­hal­ten der Tiere nicht nur aus Reflex­en auf Umwel­treizen beruht, wie die Behav­ior­is­ten glaubten, son­dern kom­plexe ange­borene Ver­hal­tens­muster umfaßt, soge­nan­nte Erbko­or­di­na­tio­nen, mit denen sie auf Schlüs­sel­reize in Sit­u­a­tio­nen spez­i­fisch reagieren, die für ihren Über­lebens- und Fortpflanzungser­folg wichtig sind. Zu den Aus­lösern gehören neben bes­timmten ökol­o­gis­chen und sozialen Bedin­gun­gen auch innere Antrieb­smech­a­nis­men, die zum Beispiel etwa die Hand­lungs­bere­itschaft zur Part­ner­suche oder zum Rivalenkampf bewirken. Das ganze Sozialver­hal­ten, Paarung und Aufzucht, Erkundungs‑, Jagd- und Fluchtver­hal­ten ist durch solche Pro­gramme bes­timmt. Es han­delt sich um genetisch fix­ierte stammes­geschichtliche Anpas­sun­gen, die jew­eils genau­so charak­ter­is­tisch für eine Art sind, wie ihre mor­phol­o­gis­chen Merk­male. Durch den Ver­gle­ich des Ver­hal­tens, der soge­nan­nten Ethogramme der ver­schiede­nen Arten, kann man deren stammes­geschichtliche Ver­wandtschafts­beziehun­gen eben­sogut rekon­stru­ieren wie anhand von mor­phol­o­gis­chen Merk­malen.

Kon­rad Lorenz wies darauf hin, daß solche genetis­chen Ver­hal­tenspro­gramme sich nicht auf das Tier­re­ich beschränken, son­dern daß sie auch das Ver­hal­ten des Men­schen in vielfältiger Weise bes­tim­men. So weist das men­schliche Ver­hal­ten viele Übere­in­stim­mungen mit dem der Tiere auf. Ein Beispiel für ein ange­borene Ver­hal­tens­muster ist die emo­tionale Reak­tion auf das soge­nan­nte Kind­chen­schema, das Beschützerin­stink­te aus­löst.

Indem er erkan­nte, daß auch der kog­ni­tive Appa­rat des Men­schen evo­lu­tionär durch die Auseinan­der­set­zung mit sein­er Umwelt ent­standen ist, wurde Lorenz zum Begrün­der der Evo­lu­tionären Erken­nt­nis­the­o­rie, deren Grund­la­gen er schon in seinem berühmten, in der Kriegege­fan­gen­schaft ver­faßten „rus­sis­chen Manuskript“ niedergeschrieben hat und die er später in seinem Buch Die Rück­seite des Spiegels (1975) veröf­fentlichte. Die apri­or­ischen Anschau­ungs­for­men und Kat­e­gorien des men­schlichen Geistes sind nicht willkür­lich, wie noch Kant glaubte, son­dern liefern ein erprobtes Abbild sein­er natür­lichen Umwelt, das uns das Über­leben in ihr ermöglicht hat.

Lorenz wies immer wieder auf die „kon­ser­v­a­tive Natur“ des Men­schen hin. Als von stammes­geschichtlich evoluierten Bedürfnis­sen und Ver­hal­tenspro­gram­men bes­timmtes Wesen, ist der Men­sch nicht beliebig kon­di­tion­ier­bar. Zwar erfordert die Natur des Men­schen kul­turelle Führung, Erziehung und Tra­di­tion, — Lorenz dachte darin wie Arnold Gehlen -, diese müssen jedoch den men­schlichen Bedürfnis­sen angepaßt sein. Die natür­liche Bedürfnis­struk­tur des Men­schen kann nicht unbe­gren­zt und unges­traft unter­drückt wer­den.

Anders, als von Kri­tik­ern oft unter­stellt, bestritt Lorenz nicht die Son­der­stel­lung des Men­schen. Das Aus­maß und die Bedeu­tung des Ler­nens haben sich beim Men­schen um ein Vielfach­es gesteigert. Durch Reflex­ion und begrif­flich­es Denken kann der Men­sch seine Erfahrun­gen ratio­nal objek­tivieren und Mit­tels der kul­turellen Tradierung ist es ihm möglich, sein erwor­benes Wis­sen zu spe­ich­ern und weit­erzugeben. Neben dem in den Genen gespe­icherten Wis­sen ver­fügt der Men­sch so über einen neuen Wis­sensspe­ich­er, der den natür­lichen an Schnel­ligkeit und Effizienz bei weit­em über­trifft. Es sei daher auch keine Übertrei­bung zu sagen, daß „das geistige Leben des Men­schen eine neue Art von Leben“ ist.

Seit den 1970er Jahren nahm Lorenz in der Öffentlichkeit die Rolle eines kul­turkri­tis­chen Mah­n­ers ein. In den Büch­ern Die acht Tod­sün­den der zivil­isierten Men­schheit (1973) und Der Abbau des Men­schlichen (1983) übte er Kri­tik an der Umweltzer­störung, der Über­bevölkerung, der Ent­frem­dung von der Natur, an Ego­is­mus und Konkur­ren­z­denken. Stand er mit diesen Kri­tikpunk­ten auf der Höhe des dama­li­gen Zeit­geistes — zeitweilig galt er ger­adezu als eine Ikone der Umwelt­be­we­gung -, so bein­hal­tete seine Kul­turkri­tik auch klas­sis­che kon­ser­v­a­tive und eugenis­che Posi­tio­nen, die schon damals nicht auf ungeteilte Zus­tim­mung stießen. So kri­tisierte er die zunehmende Unlustin­tol­er­anz und Ver­we­ich­lichung in der Kon­sumge­sellschaft und warnte vor dem Abriß der kul­turellen Tra­di­tion.

Mit der Stu­den­ten­be­we­gung hat­te sich sein­er Mei­n­ung nach der nor­male Gen­er­a­tio­nenkon­flikt so sehr ver­schärft, daß die Gen­er­a­tio­nen einan­der zum ersten Mal mit „eth­nis­chem Haß“ gegenüber­ste­hen. Was unter anderem dadurch zum Aus­druck kam, daß man sich in ein­er Art Pseu­dospez­i­fika­tion durch kün­stliche Merk­male der Klei­dung, der Haar- und Bart­tra­cht und des Ver­hal­tens voneinan­der abgren­zte.

Lorenz warnte auch vor der Gefahr eines genetis­chen Ver­falls. Er sah in manchen Erschei­n­un­gen der mod­er­nen Mas­sen­ge­sellschaft den Aus­druck von Domestika­tion­ser­schei­n­un­gen, von Aus­fall­er­schei­n­un­gen durch nach­lassende Selek­tion. Dazu zählte er die „zunehmende Wert­blind­heit“ und die Hyper­tro­phie stammes­geschichtlich älter­er Antriebe wie Sex­u­al­ität, Nahrungsauf­nahme und Aggres­siv­ität, die durch evo­lu­tionär jün­gere und labilere soziale Pro­gram­mierun­gen bish­er in Schach gehal­ten wur­den.

Diese Kri­tikpunk­te bracht­en Lorenz in linken Kreisen den Ruf der Nähe zur Nation­al­sozial­is­mus ein, der ihm angesichts sein­er großen Pop­u­lar­ität zu Lebzeit­en aber noch nicht sehr schaden kon­nte. Erst einige Zeit nach seinem Tod wurde Lorenz — ange­facht durch ver­meintlich „belas­tende“ Funde aus der NS-Zeit in seinem Nach­laß — zunehmend zum Objekt ein­er linken Ver­gan­gen­heit­sa­u­far­beitung. Dem ste­ht aber nach wie vor der große Respekt gegenüber, den er auf­grund sein­er wis­senschaftlichen Leis­tun­gen genießt.

Kon­rad Lorenz ver­starb am 27. Feb­ru­ar 1989 in Wien.

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Zitat:

In der Struk­tur men­schlichen Füh­lens, Denkens und Han­delns sind so viele his­torische Reste aus der Zeit vor­men­schlich­er tierisch­er Ahnen erhal­ten, und diese sind für das Ver­ständ­nis wichtig­ster psy­chol­o­gis­ch­er und vor allem auch sozi­ol­o­gis­ch­er Erschei­n­un­gen unent­behrlich.

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Schriften:

  • Das soge­nan­nte Böse, Wien 1963
  • Über tierisches und men­schlich­es Ver­hal­ten, München 1965
  • Die acht Tod­sün­den der zivil­isierten Men­schheit, München 1973
  • Die Rück­seite des Spiegels, Ver­such ein­er Naturgeschichte des men­schlichen Erken­nens, München 1975
  • Ver­gle­ichende Ver­hal­tens­forschung, Wien 1978
  • Der Abbau des Men­schlichen, München 1983

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Lit­er­atur:

  • Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Kon­rad Lorenz (*1903), in: Die Psy­cholo­gie des 20. Jahrhun­derts. Bd. VI: Lorenz und die Fol­gen, Zürich 1978
  • Kurt Kotrschal/Gerd Müller/Hans Win­kler (Hrsg.): Kon­rad Lorenz und seine ver­hal­tens­bi­ol­o­gis­chen Konzepte aus heutiger Sicht, Fürth 2001
  • Hein­rich Meier: Kon­rad Lorenz, in: Cas­par v. Schrenck-Notz­ing (Hrsg.): Kon­ser­v­a­tive Köpfe. München 1978
  • Franz Wuketits: Kon­rad Lorenz. Leben und Werk eines großen Natur­forsch­ers, München 1990