Scholien zu einem inbegriffenen Text — Nicolá Gómez Dávila,1979

Das Werk des kolumbian­is­chen Denkers Nicolás Gómez Dávi­la beste­ht ganz über­wiegend aus Apho­ris­men, die er Glossen bzw. Scholien nen­nt. Er spielt damit auf die Prax­is antik­er Philolo­gen an, Texte mit erläutern­den Randbe­merkun­gen zu verse­hen. Dieser zu erläuternde Text erscheint bei Gómez Dávi­la nur in »impliziter« Form, die Glossen wer­den damit zum Haupt­text. Eine äußere Ord­nung der Apho­ris­men ist nicht erkennbar; vielmehr fol­gt das Buch ein­er konzen­trischen Struk­tur, in der gle­iche oder ähn­liche Gedanken an ver­schiede­nen Stellen wieder auf­tauchen. Die Apho­ris­men Gómez Dávi­las zeich­nen sich durch große Verk­nap­pung, geisti­gen Scharf­sinn und zuge­spitzte Charak­ter­isierun­gen aus.

Das Buch enthält keine direk­ten Lesean­weisun­gen, son­dern nur indi­rek­te durch eine Rei­he Mot­ti von Dio­genes Laer­tius bis zu Niet­zsche, die in den Orig­i­nal­sprachen zitiert wer­den – bere­its das ein Indiz für die Emphase, mit der Gómez Dávi­la die klas­sis­che Bil­dung zum Gegen­stand sein­er Reflex­ion und zur Vorbe­din­gung jed­er ern­stzunehmenden Geis­teskul­tur macht. Die apho­ris­tis­chen Glossen ver­weisen in ihrem frag­men­tarischen Charak­ter darauf, daß sich die Wirk­lichkeit der Welt nicht in Form eines Sys­tems ein­fan­gen läßt, son­dern nur je und je an konkreten Fällen aufgezeigt wer­den kann. Gómez Dávi­la entwick­elt die Glosse zur Kun­st­form des Ver­führens und Ver­suchens zum Denken über die dun­klen Stellen, die eben noch im Lichte der fortschrit­tlichen Aufk­lärung hell, klar und dis­tinkt erschienen waren. Das Frag­ment gilt Gómez Dávi­la daher als Aus­druck rechtschaf­fe­nen Denkens, das den Schleier der (Selbst-)Täuschungen zer­reißt.

Inhaltlich ist sein Apho­ris­men­werk bedeut­sam durch die Einkreisung eines reak­tionären Welt- und Men­schen­bildes. Der Begriff »reak­tionär« wird von Gómez Dávi­la im Gegen­satz zur tage­spoli­tis­chen Prax­is nicht pejo­ra­tiv oder kri­tisch ver­wen­det, son­dern affir­ma­tiv. Damit markiert Gómez Dávi­la bere­its seine radikale Ablehnung der poli­tis­chen Üblichkeit­en, aber auch des abstrak­ten The­o­retisierens: reak­tionäres Denken ist konkretes Denken. Die mod­erne Welt, gegen die sich der Autor mit­tels sein­er rhetorischen Speer­spitzen wen­det, gilt ihm als zutief­st ver­wor­fen und daher kri­tik­würdig. Allerd­ings betra­chtet er sie nicht als endgültiges Ver­häng­nis, da es geheime Waf­fe­narse­nale dage­gen gebe, die Gómez Dávi­la, so wird man sagen dür­fen, in seinem Werk zur Ver­fü­gung zu stellen sucht. Er ver­sucht, dazu beizu­tra­gen, daß die Ansprüche der Seele auf Schön­heit nicht ver­jähren und polemisiert z. B. gegen jene See­len, »die spon­tan gegen jeden Schat­ten der Schön­heit anbellen«.

Gómez Dávi­la greift die mod­erne Welt und ihre sit­tliche, vor allem aber auch ästhetis­che Verkom­men­heit mit schar­fen Spitzen an und behar­rt gegen jede Form des post­mod­er­nen Lib­er­al­is­mus auf der Exis­tenz geistiger und ästhetis­ch­er Ran­gun­ter­schiede. Seine Bas­tion bei diesen Attack­en ist ein unbe­d­ingt auf Gott ver­trauen­der Katholizis­mus, der allerd­ings durch die Errun­gen­schaften der antiken Philoso­phie angere­ichert ist. Das Denken Gómez Dávi­las ist von starken the­ol­o­gis­chen Impulsen getra­gen – immer wieder reflek­tiert er die Aufwe­ichungser­schei­n­un­gen des tra­di­tionellen Chris­ten­tums in der Mod­erne mit ätzen­der Schärfe – inner­halb wie außer­halb der Kirche. So ver­fällt etwa der Pela­gian­is­mus, die auf der Leug­nung der Erb­sünde beruhende Vorstel­lung, der Men­sch könne sich selb­st erlösen, sein­er ätzen­den Kri­tik. Auch Gómez Dávi­las deut­liche Kri­tik der Demokratie beruht auf the­ol­o­gis­chen Voraus­set­zun­gen. Gómez Dávi­la ist ein Denker der Frei­heit, der die wider­stre­i­t­en­den Kräfte der Gesellschaft und der Triebe als Garantie unser­er Frei­heit sieht. Er ist daher weit ent­fer­nt von einem Frei­heits­fa­natismus, der sein­er Auf­fas­sung nach in einem Polizeis­taat endet.

Im Bere­ich des Geis­teslebens hält er ernüchtert fest, daß die Philoso­phie an den Uni­ver­sitäten nur über­win­tert; der Kampf gegen die Dummheit ist ein zen­traler und wiederkehren­der Aspekt der moder­nität­skri­tis­chen Inten­tion Gómez Dávi­las. Dazu gehört auch eine Form der Sprachkri­tik, die das Denken vor Fall­strick­en bewahren soll: »Wer das Vok­ab­u­lar des Fein­des akzep­tiert«, so heißt es ein­mal, »ergibt sich ohne sein Wis­sen. Bevor die Urteile in den Sätzen expliz­it wer­den, sind sie impliz­it in den Wörtern.« Mod­erne Erziehung, so die sarkastis­che These Gómez Dávi­las, übergibt der Pro­pa­gan­da intak­te Gehirne.

Kon­ser­v­a­tiv ist Gómez Dávi­las Wertschätzung der Gemein­plätze, in denen eine uralte Weisheit enthal­ten ist, die man nicht unges­traft in den Wind schlägt. Gegen die Gehirn­er­we­ichung, die nach Gómez Dávi­la vor allem mit dem linken Denken ein­herge­ht, set­zt der reak­tionäre Apho­ris­tik­er kristal­lk­lar und stein­hart for­mulierte Sätze, die ihre Leser in eine geistige Dis­tanz zur mod­er­nen Welt brin­gen sollen. Impliziter Bezugspunkt für Gómez Dávi­las schrift­stel­lerisches Schaf­fen ist daher »eine Wahrheit, die nicht stirbt«, als deren Ver­mit­tler sich der Autor sieht. Diese Wahrheit erschließt sich durch die konzen­trische Lek­türe sein­er Apho­ris­men, die zunächst in ein­er Auswahl unter dem Titel Ein­samkeit­en. Glossen und Text in einem (1987) erschienen und lange als Geheimtip gehan­delt wur­den, dann aber u. a. durch das Engage­ment von Schrift­stellern wie Mar­tin Mose­bach, Botho Strauß oder Michael Klonovsky größere Ver­bre­itung fan­den; so etwa auch in Frankre­ich, Ital­ien und Polen. Gómez Dávi­las Texte richt­en sich an das »Häu­flein der ver­sprengten Einzel­nen« (Botho Strauß), in dem die Unzeit­gemäßheit eines Denkens weit­er­lebt, das sich den Blick auf die Wirk­lichkeit nicht von gängi­gen Mod­e­the­o­rien ver­stellen läßt. Der Reak­tionär im Sinne Gómez Dávi­las mag daher tat­säch­lich, wie Botho Strauß sagt, »der let­zte Phan­tast in ein­er kom­plet­ten Fan­ta­sy-World« sein.

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Zitat:

Um bei dem Linken Anstoß zu erre­gen, reicht es, die Wahrheit zu sagen.

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Aus­gabe:

  • 2.,durchgesehene und ergänzte Auflage, Wien/Leipzig: Karolinger 2016

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Lit­er­atur:

  • Till Kinzel: Nicolás Gómez Dávi­la. Parteigänger ver­loren­er Sachen, Schnell­ro­da 2006
  • Alfre­do Abad Tor­res: Pen­sar lo implíc­i­to. En torno a Gómez Dávi­la, Pereira 2008
  • Fran­co Volpi: Nicolás Gómez Dávi­la. El soli­tario de dios, Bogotá 2005