Gómez Dávila, Nicolás, Privatgelehrter, 1913–1994

Der Schrift­steller, Pri­vat­gelehrte, Banki­er und Denker Gómez Dávi­la, der aus der kolumbian­is­chen Ober­schicht stammte (geboren am 18. Mai 1913 in Bogotá), erhielt neben dem Schulbe­such in Paris Pri­vatun­ter­richt, besuchte jedoch selb­st keine Uni­ver­sität. Nach­dem er in den dreißiger Jahren nach Kolumbi­en zurück­gekehrt war, wid­mete er sich dem Auf­bau sein­er immensen Bib­lio­thek, die das Zen­trum sein­er denkerischen und schrift­stel­lerischen Exis­tenz darstellte.

1948 unter­stützte er die Grün­dung der Anden-Uni­ver­sität in Bogotá. 1954 veröf­fentlichte sein Brud­er, offen­bar ohne sein Ein­ver­ständ­nis, erste Aufze­ich­nun­gen unter dem Titel »Notas I« (ein zweit­er Band erschien nie), die erst ein halbes Jahrhun­dert später in ein­er Buch­han­del­saus­gabe pub­liziert wur­den. 1959 fol­gte ein eben­falls als Pri­vat­druck ver­legtes, schmales Buch mit Essays unter dem Titel »Tex­tos I« (kein zweit­er Band erschienen). In diesem Band, der grundle­gende anthro­pol­o­gis­che und »geschicht­sphilosophis­che« Über­legun­gen in oft lit­er­arisch­er Sprache enthält, äußert Gómez Dávi­la erst­mals die Absicht, mit seinen Tex­ten einen »reak­tionären Flick­en­tep­pich« zu erar­beit­en, da die Wirk­lichkeit nicht in einem Denksys­tem erfaßt wer­den könne.

Nach dem Sturz des Mil­itärdik­ta­tors wurde ihm 1958 der Posten eines Chef­ber­aters des Staat­spräsi­den­ten ange­boten, den er eben­so ablehnte wie das Ange­bot im Jahre 1974, Botschafter in Lon­don zu wer­den. Zwar unter­stützte Gómez Dávi­la die Rolle Alber­to Lleras, des späteren Präsi­den­ten, in der Bewe­gung zum Sturz der Dik­tatur, enthielt sich jedoch selb­st jed­er poli­tis­chen Tätigkeit, eine Entschei­dung, zu der er bere­its zu Beginn sein­er schrift­stel­lerischen Prax­is gelangt war. Daraus resul­tiert seine Kri­tik nicht nur der linken, son­dern auch der recht­en oder kon­ser­v­a­tiv­en poli­tis­chen Prax­is, auch wenn sich man­nig­fache Berührungspunk­te mit kon­ser­v­a­tiv­en Grund­po­si­tio­nen aufweisen lassen, wie z. B. in bezug auf seine skep­tis­che, an Thuky­dides und Jacob Bur­ck­hardt geschulte Anthro­polo­gie sowie eine Affir­ma­tion hier­ar­chis­ch­er Ord­nungsstruk­turen in Gesellschaft, Staat und Kirche. Emphatisch kri­tisierte Gómez Dávi­la die Idee der Volkssou­veränität, die ihm im Wider­spruch zur Sou­veränität Gottes zu ste­hen schien. Kri­tik übte er des­gle­ichen an der Anpas­sung der Kirche an die Welt im Gefolge des II. Vatikanums und beklagte den Ver­lust der lateinis­chen Liturgie. Ähn­lich wie für Donoso Cortés resul­tierten auch für Gómez Dávi­la alle poli­tis­chen Irrtümer im let­zten aus the­ol­o­gis­chen Irrtümern, so daß sich seine The­o­rie als eine poli­tis­che The­olo­gie ver­ste­hen läßt.

Die mod­er­nen Ide­olo­gien wie Lib­er­al­is­mus, Demokratie und Sozial­is­mus unter­zog Gómez Dávi­la ein­er ätzen­den und scharf­sin­ni­gen Kri­tik, da ihm die von diesen geprägte Welt als ver­wor­fen und dekadent erschien. Sein weit­ges­pan­nter Geist befaßte sich mit vielfälti­gen philosophis­chen und the­ol­o­gis­chen Fra­gen, mit Prob­le­men der Lit­er­atur, der Kun­st und Ästhetik, der Geschicht­sphiloso­phie und Geschichtss­chrei­bung sowie der Poli­tik und Kul­turkri­tik. Dazu bedi­ente er sich mit hohem Stil­be­wußt­sein ein­er lit­er­arischen Tech­nik der Verk­nap­pung, die im Titel seines an die tausend Seit­en umfassenden Hauptwerkes zum Aus­druck kommt (Esco­l­ios a un tex­to implic­i­to; dt. in etwa: Glossen zu einem Text, der nicht expliz­it aus­for­muliert ist). »Der Reak­tionär« als lit­er­arische Maske wurde von ihm zu einem her­aus­ge­hobe­nen und unver­wech­sel­baren Typus gestal­tet, der sowohl eine ein­ma­lige lit­er­arische Fig­ur als auch einen grund­sät­zlichen geisti­gen Habi­tus darstellt. In seinem späteren Werk sollte er darange­hen, die Fig­ur des »Reak­tionärs«, mit dem er sich iden­ti­fizierte, von vie­len Seit­en zu bes­tim­men. Gómez Dávi­la faßte den Begriff des Reak­tionärs affir­ma­tiv und ver­stand darunter die Verkör­pe­rung ein­er Posi­tion jen­seits von rechts und links, die auf der Basis eines katholis­chen Tra­di­tion­al­is­mus schärf­ste Moder­nität­skri­tik übte und Partei ergriff für eine »Wahrheit, die nicht stirbt«.

Er bemühte sich nicht um die Ver­bre­itung sein­er Schriften; jedes Streben nach Öffentlichkeitswirk­samkeit war ihm fremd. Gómez Dávi­las Werk, das auf­grund sein­er kom­pro­mißlosen Moder­nität­skri­tik und sein­er Bejahung des Stils quer zu allen philosophis­chen Haupt­strö­mungen des 20. Jahrhun­derts ste­ht, fand erst im Gefolge der deutschen Über­set­zun­gen im Karolinger Ver­lag (sowie später ital­ienis­chen und franzö­sis­chen, inzwis­chen auch pol­nis­chen Über­set­zun­gen) stärkere Res­o­nanz bei Dichtern und Philosophen wie Mar­tin Mose­bach, Botho Strauß, Rein­hart Mau­r­er, Ernst Jünger, Rolf Schilling, Hein­er Müller, Robert Spae­mann, Erik von Kuehnelt-Led­di­hn, Fran­co Volpi oder Asfa-Wossen Asser­ate.

Gómez Dávi­la starb am 17. Mai 1994 in Bogotá.

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Zitat:

Der Fortschrit­tler tri­um­phiert immer, und der Reak­tionär hat immer recht. Recht haben heißt in der Poli­tik nicht, die Szene zu beherrschen, son­dern vom ersten Akt an die Leichen
des fün­ften vorherzusagen.

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Schriften:

  • Esco­l­ios a un tex­to implíc­i­to. Obra com­ple­ta, Bogotá 2005
  • Auf ver­loren­em Posten, Wien 1992
  • Aufze­ich­nun­gen des Besiegten, Wien 1994
  • Texte und andere Auf­sätze, Wien 2003
  • Notas. Unzeit­gemäße Gedanken, Berlin 2005
  • Scholien zu einem inbe­grif­f­e­nen Text, Wien 2006
  • Das Leben ist die Guil­lo­tine der Wahrheit­en. Aus­gewählte Sprengsätze, Frank­furt a. M. 2006
  • Es genügt, daß die Schön­heit unseren Über­druß streift … Apho­ris­men, Stuttgart 2007

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Lit­er­atur:

  • Till Kinzel: Nicolás Gómez Dávi­la. Parteigänger ver­loren­er Sachen, Schnell­ro­da 2003
  • Till Kinzel: Randbe­merkun­gen zu Nicolás Gómez Dávi­la als Lehrer des Lesens, in: Ein­fache For­men und kleine Literatur(en). Für Hin­rich Hud­de zum 65. Geburt­stag, hrsg. v. Michaela Weiß und Frauke Bay­er, Hei­del­berg 2010
  • Rein­hart Mau­r­er: Reak­tionäre Post­mod­erne – Zu N. G. D., in: J. Albertz (Hrsg.): Aufk­lärung und Post­mod­erne – 200 Jahre nach der franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion das Ende aller Aufk­lärung?, Berlin 1991
  • Peter Schultze-Kraft (Hrsg.): Dossier zu Nicolás Gómez Dávi­la, in: Akzente. Zeitschrift für Lit­er­atur 2 (April 2008)