Gewalt

Gewalt hat, wenn man von der Wortwurzel aus­ge­ht, zweier­lei Bedeu­tung: zum einen “beherrschen”, zum anderen “stark sein”. Was den ersten Aspekt bet­rifft, so leit­et sich daraus die Vorstel­lung vom “Wal­ten” und “Ver­wal­ten” ein­er “Staats­ge­walt” (Staat) ab; was den zweit­en ange­ht, kommt hier das landläu­fige Ver­ständ­nis von Gewalt als Anwen­dung von Zwang, vor allem physis­chem Zwang, ins Spiel.
 
In Zeit­en, in denen die Gesellschaft von der Vorstel­lung von und dem Wun­sch nach “Gewalt­frei­heit” beherrscht wird, in denen sog­ar das uralte Recht auf elter­liche Züch­ti­gung der Kinder (Erziehung) abgeschafft wurde und Paz­i­fis­mus als Staa­trä­son gilt, ist es wichtig, sich vor Augen zu hal­ten, daß bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhun­derts die Anwen­dung von Gewalt zwar als ethisch heikel, aber als selb­stver­ständlich betra­chtet wurde, weil man entwed­er annahm, daß Gott sein­er­seits Gewalt anwende und ver­fügt habe, daß “Bös­es mit Bösem” im Zaum gehal­ten wer­den müsse (Gen­e­sis 8.21–9.6), oder weil das Natur­recht eine unter­schiedliche Beurteilung je nach den mit der Gewal­tan­wen­dung ver­fol­gten Zweck­en ermögliche.
 
Gegen diese tra­di­tionellen Auf­fas­sun­gen gab es in der Mod­erne allerd­ings zunehmend Ein­wände von seit­en der Linken, deren Fortschrittser­wartung (Entwick­lung, Geschichte) auf eine let­ztlich gewalt­lose Welt ging. Die Plau­si­bil­ität ihrer “Gewaltkri­tik” ver­stärk­te sich durch die Kollek­tiver­fahrung der großen Kriege. Deren Furcht­barkeit wurde von der Gegen­seite grund­sät­zlich nicht in Frage gestellt, allerd­ings auf der Recht­en schon vor dem Ersten Weltkrieg gel­tend gemacht, daß der Über­gang der indus­triellen in eine “pos­therois­che”, Gewalt- und Schmerzfrei­heit ermöglichende Gesellschaft Neben­wirkun­gen erzeuge, die nur als Dekadenz zu fassen seien. Man muß Niet­zsches Apolo­gie der Gewalt genau­so in diesem Kon­text begreifen wie Georges Sorels wirk­mächtiges Buch Über die Gewalt oder den eher erfahrungs­gesät­tigten (Real­is­mus) Hin­weis auf die Unmöglichkeit, das müh­sam erre­ichte inner­staatliche Gewalt­monopol auf die außer- oder zwis­chen­staatliche Welt (Uni­ver­sal­is­mus) zu über­tra­gen.
 
Von der Aus­gangssi­t­u­a­tion dieser Debat­te ist die Gegen­wart sehr weit ent­fer­nt, wen­ngle­ich sich die vor­ge­tra­ge­nen Argu­mente nicht wesentlich verän­dert haben. Auf­fäl­lig ist dabei nur die Unehrlichkeit der Linken, die in der Prax­is nicht nur zwis­chen ihrer eige­nen — also guten — rev­o­lu­tionären, pro­gres­siv­en “Gegenge­walt” und der feindlichen — also bösen — faschis­tis­chen, reak­tionären, “struk­turellen Gewalt ” unter­schei­det, son­dern sich außer­dem in jedem Fall der Machtüber­nahme vor­be­halt­los des ganzen Reper­toires der staatlichen Gewalt­möglichkeit­en bedi­ent. Das wird von der Recht­en allerd­ings immer nur mit mehr oder weniger großer Verblüf­fung zur Ken­nt­nis genom­men, ohne daß es zu ein­er echt­en Analyse des Vor­gangs und Entwick­lung ein­er wirkungsvollen Argu­men­ta­tion kommt.
 
Das ist um so weniger zu begreifen, als heute ein großes Reper­toire an Erken­nt­nis­sen zur Ver­fü­gung ste­ht, das von der Ein­sicht der Etholo­gie in die prinzip­ielle Ambivalenz des “soge­nan­nten Bösen” (Kon­rad Lorenz) men­schlich­er Aggres­sion bis zu den Erken­nt­nis­sen von Anthro­polo­gie und Reli­gion­swis­senschaft reicht, die den Gemein­schaft kon­sti­tu­ieren­den Charak­ter von Gewalt her­aus­gear­beit­et haben und jeden­falls eher die Vorstel­lung nahele­gen, daß Gewalt gehegt, nicht daß sie abgeschafft wer­den sollte.
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Zitate:
Der noa­chi­tis­che Bund mit der neu ver­liehenen Notord­nung über die gefal­l­ene Welt ken­nt darum die Macht nicht mehr ein­fach als Sym­bol und Resti­tu­tion der Schöp­fung­shier­ar­chie, son­dern gewalt­sames arcere malum, als Macht der Gewalt, die der gefal­l­enen Welt mit Hil­fe ihrer eige­nen Struk­turge­set­ze Ord­nung aufzwingt.
 
In den religiösen Inter­pre­ta­tio­nen wird die Grün­dungs­ge­walt verkan­nt, deren Exis­tenz hinge­gen bekräftigt. In den mod­er­nen Inter­pre­ta­tio­nen wird umgekehrt deren Exis­tenz verneint. Gle­ich­wohl herrscht die Grün­dungs­ge­walt auch weit­er­hin über alles — als ferne unsicht­bare Sonne, um die sich nicht nur die Plan­eten, son­dern auch deren Satel­liten und die Satel­liten der Satel­liten drehen.
René Girard
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Lit­er­atur: